Timothy Keller, ehem. Pastor der Redeemer Church, Manhatten/NY

Lothar Krauss stellt auf seinem lesenswerten Blog einen Artikel über Führungsprinzipien von Timothy Keller zur Verfügung. Es geht um Führung in wachsenden Gemeinden, also konkret um die Wachstumsschwellen und die Charakteristika von Kirchengemeinden.

Ich stelle im Folgenden – mit Erlaubnis des Übersetzers L. Krauss – die wichtigsten Thesen heraus.1

Grundsätzliches zur Führung in wachsenden Gemeinden

These 1: Pastorale Führung scheitert sehr häufig wegen fehlendem Verständnis bzw. der fehlenden Wahrnehmung für die Bedeutung der Größe einer Gemeinde.

These 2: Der Unterschied, wie Gemeinden mit 100 bzw. 1000 Mitgliedern leben und arbeiten, kann weitaus größer sein als der Unterschied in der Denomination. Eine große Gemeinde ist nicht einfach die größere Ausgabe einer kleinen Gemeinde.

These 3: Die meisten Menschen haben einen Favoriten in Bezug auf die Größe. Das bedeutet, dass ein weiser Pastor auf mitfühlende aber klare Art und Weise den Leuten gegenübertreten muss, die mit der Gemeindekultur bzw. -größe nicht klarkommen (z. B. Einige Menschen sind in Sachen Organisation und Struktur sehr misstrauisch, was oft auf schlechte Erfahrungen zurückgeht).

These 4: Jede Gemeinde hat Aspekte ihrer natürlichen Größenkultur, denen widerstanden werden muss bzw. wogegen geführt werden muss. Jede Größe bringt enorme Schwierigkeiten aber auch viele Möglichkeiten für Dienste mit sich, die Gemeinden anderer Größen nicht durchführen können (zumindest nicht so gut). Nur gemeinsam können die Gemeinden all das repräsentieren, was Christus für seine Gemeinde möchte.

Was passiert, wenn Gemeinden ihre Größe verändern bzw. wachsen?

Folge 1: Je größer die Gemeinde, desto weniger haben die Mitglieder gemeinsam. Es gibt mehr Vielfalt an Faktoren wie Alter, familiärer Status, ethnische Zugehörigkeit und so weiter. Demzufolge braucht eine Gemeinde von 400 Mitgliedern vier bis fünf Mal so viele Programme als eine Gemeinde mit 200 – nicht nur zwei Mal so viele.

Folge 2: Größere Gemeinden sind um ein Vielfaches komplexer als die kleineren. Sie haben verschiedene Gottesdienste, Hauskreise und Lehrangebote und irgendwann sind es mehrere Gemeindeversammlungen innerhalb einer Gemeinde.

Folge 3: Je größer die Gemeinde desto mehr Mitarbeiter müssen pro Kopf hinzugefügt werden.

Folge 4: Auf der einen Seite gilt, je größer die Gemeinde, desto mehr Entscheidungsprozesse fallen auf die „Vollzeitmitarbeiter“ bzw. leitende Mitarbeiter ab. Allgemein gesagt gilt: In kleinen Gemeinden werden Grundsätze von vielen beschlossen und Gemeindearbeit von wenigen ausgeübt, während in großen Gemeinden Gemeindearbeit von vielen gemacht wird und Grundsätze von wenigen beschlossen werden.

Folge 5: Je größer die Gemeinde, desto systematischer und wohldurchdachter muss die Aufnahme neuer Leute erfolgen.

Folge 6: Je größer die Gemeinde, desto schwieriger wird es, Freiwillige zu gewinnen. Folglich bedarf es einer besseren Organisation für diesen Prozess.

Folge 7: Je größer die Gemeinde, desto besser muss die Kommunikation sein. Ohne verschiedene Formen und sich wiederholende Nachrichten werden sich Leute außen vor gelassen fühlen und sich beschweren: „Das wurde mir nicht gesagt.“ Tipp: Man merkt, dass man in einer höheren Größenkategorie angekommen ist, wenn solche Beschwerden häufig geäußert werden. Die Führungsverantwortlichen müssen mehr Zeit aufwenden, um gut zu kommunizieren.

Folge 8: Je größer die Gemeinde, desto mehr Planung und Organisation muss in Veranstaltungen investiert werden. Generell wird in größeren Gemeinden eine höhere Qualität erwartet, und Veranstaltungen können nicht einfach so zusammengeschustert werden. Spontane Last-Minute-Arbeit funktioniert nicht (mehr).

Folge 9: Je größer die Gemeinde, desto höher sollte die Qualität der Veranstaltung sein. In kleineren Gemeinden basiert das Erleben der Anbetung vor allem auf den horizontalen Beziehungen unter denjenigen, die teilnehmen. Musikalische Darbietungen von mittelmäßigen  Sängern werden nichtsdestotrotz geschätzt, weil „wir sie alle kennen“ und sie Mitglieder der Gemeinschaft sind. Aber je größer die Gemeinde ist, desto stärker basiert die Anbetung auf der vertikalen Beziehung – auf einem Gefühl von Transzendenz. Wenn ein Außenstehender kommt, der die Musiker nicht kennt, wird mittelmäßiges Singen und Spielen ihn von der Anbetung ablenken. Er oder sie hat keine Beziehung zu den Musikern, um den Mangel an Begabung auszugleichen. Deshalb gilt: Je größer die Gemeinde, desto eher wird die Musik und die Gestaltung zu einem Faktor der Einbeziehung.

Folge 10: Je größer die Gemeinde, desto häufiger und plötzlicher treten Veränderungen ein.

Folge 11: Je größer die Gemeinde wird, desto eher verliert sie Mitglieder wegen Veränderungen. / In größeren Gemeinden haben kleine Gruppen und individuelle Mitglieder viel weniger Möglichkeiten, Macht auszuüben oder gegen Veränderungen Widerstand zu leisten, die sie nicht mögen. / Verantwortliche von wachsenden Gemeinden sind eher bereit, Mitglieder zu verlieren, die mit den Abläufen oder der Philosophie des Dienstes nicht einverstanden sind.

Folge 12: Je größer die Gemeinde, desto weniger ist der Hauptprediger verfügbar, um pastorale Arbeit zu tun.

Folge 13: Je größer die Gemeinde, desto wichtiger werden die Führungsfähigkeiten des Pastors. Predigen und pastoraler Dienst sind ausreichende Fähigkeiten für Pastoren in kleineren Gemeinden, aber in größeren Gemeinden werden andere Kompetenzen wichtig. Das  Entwerfen von Visionen und Strategien ist in größeren Gemeinden elementar.

Folge 14: Je größer die Gemeinde, desto mehr müssen sich die Mitarbeiter im pastoralen Team von Generalisten zu Spezialisten entwickeln. Jeder, vom Hauptpastor angefangen, muss sich auf bestimmte Gebiete des Dienstes fokussieren und sich so auf zwei bis drei Hauptaufgaben konzentrieren. Je größer die Gemeinde, desto mehr muss sich der Hauptpastor auf das Predigen, das Entwerfen und Verfolgen der Vision konzentrieren sowie auf das Identifizieren von Problemen, bevor sie zu Desastern werden.

Folge 15: Je größer die Gemeinde, desto wichtiger ist es für die Pastoren, besonders den Hauptpastor, für eine lange Zeit dabei zu bleiben. Wie schon zuvor bemerkt verändern sich kleinere Gemeinden langsamer und haben weniger Kommen und Gehen. Mit dieser ihr eigenen Stabilität kann eine kleinere Gemeinde den Wechsel eines Pastors alle paar Jahre verkraften (wenn nötig). Doch je größer die Gemeinde, desto mehr sind die Mitarbeiter im Allgemeinen und der Hauptpastor im Besonderen die Hauptquellen von Kontinuität und Stabilität. Ein häufiges Kommen und Gehen in der Mitarbeiterschaft erweist sich als schädlich für eine große Gemeinde.

Folge 16: Je größer die Gemeinde, desto kleiner sollten die Gruppen des pastoralen Dienstes werden. Kurse und Gruppen dürfen nicht zu groß werden und Ehrenamtliche überfordern. In größeren Gemeinden müssen die Gruppen kleiner sein, da sich „Laienhirten“ um die Leute kümmern, von denen jeder für 10-20 Personen sorgen kann, wenn er oder sie die richtige Betreuung und Unterstützung bekommt. Deshalb gilt für größere Gemeinden: Je mehr Kleingruppen man pro 100 Gottesdienstbesucher hat, desto besser ist für jeden gesorgt und desto schneller wächst die Gemeinde.

Folge 17: Je größer die Gemeinde, desto stärker konzentriert sie sich darauf, weniger Dinge aber diese gut zu machen. Kleinere Gemeinden sind Generalisten und verspüren das Bedürfnis, alles zu machen. Das kommt von der Macht der Individuen in einer kleinen Gemeinde. Die größere Gemeinde hingegen identifiziert und konzentriert sich auf ungefähr drei oder vier Hauptdinge oder Aufgaben, die sie extrem gut macht, trotz Rufen nach neuen Schwerpunkten.

Folge 18: Je größer die Gemeinde, desto wichtiger wird eine charakteristische Vision für ihre Mitglieder. Der Grund, in einer kleineren Gemeinde zu sein, sind die Beziehungen. Der Grund, all die Veränderungen und Schwierigkeiten einer größeren Gemeinde zu ertragen, ist, den Auftrag zu erfüllen. Leute treten einer größeren Gemeinde wegen der Vision bei – also muss der spezielle Auftrag klar sein.

Folge 19: Je größer die Gemeinde, desto eher entwickelt sie ihren eigenen Missionsdienst anstatt bestehende Programme zu unterstützen.

Folge 20: Deshalb ist es wichtig, dass in größeren Gemeinden Führungskräfte auf ihre Übereinstimmung mit der Vision und der Philosophie des Dienstes hin geprüft werden, nicht nur auf Lehrpositionen und moralische Standards.

Im  Folgenden beschreibt Keller die einzelnen Gemeindegrößen. Ich konzentriere mich nur auf die Größe von 200-800 Mitgliedern.

Mittelgroße Gemeinde: 200-450 Gottesdienstbesucher

In kleineren Gemeinden kennt jeder jeden. Zugehörigkeit wird zur Gemeinde als Ganzes empfunden. In einer mittelgroßen Gemeinde dagegen findet man den primären Bezug über Kreise oder Programme: Die Männer- und Frauenarbeit usw. Jede dieser Untergruppen hat ungefähr die Größe einer Hausgemeinde, also 10 – 40 Personen.

Führung funktioniert in der mittelgroßen Gemeinde anders.

1) Führung ist komplexer, Leiter müssen die verschiedensten Kreise in der Gemeinde repräsentieren (z.B. ältere Leute, junge Familien).

2) Es gibt zu viel Arbeit, als dass sie von einem kleinen Vorstand getan werden könnte. Es gibt jetzt einflussreiche Leitungsteams (z. B. Missionsteam, Lobpreis-), welche bedeutende Befugnisse haben.

3) Die Rolle des ehrenamtlichen Vorstandes beginnt sich zu ändern. Ehrenamtliche Bereichsleiter wachsen heran und werden oft zu Entscheidungenträgern.

4) Rolle des Hauptpastors ändert sich vom Hirten zum „Rancher“ (eine Art Führer der Herde im großen Stil). Anstatt den gesamten Dienst allein zu tun, wird er zum Trainer und Organisator der ‚Laien‘, die nun den Dienst ausführen. Außerdem muss er geschickt sein in der Ausbildung, Unterstützung und Aufsicht von pastoralen und administrativen Angestellten (administrative Fähigkeiten notwendig).

5) Veränderung geschieht durch zentrale Ausschüsse und Teams, die Entwicklungen vorantreiben.

Wie sie wächst

Aber der Schlüssel für das Wachstum einer mittelgroßen Gemeinde besteht im Verbessern der Qualität der Dienstbereiche und ihrer Wirksamkeit, echten Nöten zu begegnen. Die kleine Gemeinde kann sich amateurhafte Qualität leisten, da ihre Hauptanziehungskraft in der Intimität und familiären Wärme liegt. Aber die Dienste der mittelgroßen Gemeinde müssen anders sein. Kurse müssen eine großartige Lernerfahrung bieten. Musik muss ästhetischen Anforderungen entsprechen. Die Predigt muss informieren und inspirieren.

Das Überschreiten der Schwelle zur nächsten Größenkategorie

Wie gesagt, eine kleine Gemeinde überschreitet die 200er-Schwelle durch (1) eine größere Vielfalt an Möglichkeiten, (2) ein Team von Angestellten, (3) indem die Gesamtgemeinde Entscheidungsgewalt loslässt, (4) durchdachtere Aufnahmen von „Neuen“ und (5) den Wandel im Dienst des Pastors von einem Hirten-für-jeden zu einem Organisator/Administrator.

Man kann über die 200 hinaus wachsen ohne jeden dieser fünf Umbrüche vollzogen zu haben, was bei den meisten Gemeinden zu beobachten ist. Oft wachsen sie über 200 hinaus, während sie an einer oder mehreren Haltungen einer kleinen Gemeinde festhalten. … Aber um die 400 zu überschreiten muss entschieden mit den alten Gewohnheiten in allen fünf Bereichen gebrochen werden. Der sechste Umbruch – der Umzug in neue Räumlichkeiten – ist für eine mittelgroße Gemeinde normalerweise notwendig, um diese Wachstumsbarriere zu durchbrechen, aber nicht immer.

Große Gemeinde: 400-800 Gottesdienstbesucher

In der großen Gemeinde wird die Gemeinschaft einer Kleingruppe zum primären Kreis der Zugehörigkeit. Diese unterscheidet sich von einem Kurs oder einer Dienstgruppe in folgenden Punkten: a) Sie ist meist kleiner – ab 4 bis maximal 15 Personen. b) Sie hat mehr von einer „Miniatur-Gemeinde“ als ein Kurs oder eine Dienstgruppe (Kurse oder Dienste sind spezielle Programme, die den Fokus auf das Lernen, Lobpreis oder den Dienst an den Armen etc. setzen). Die Kleingruppe jedoch studiert die Bibel, hat Gemeinschaft, Lobpreis und Dienst.

Auch Führung funktioniert in der großen Gemeinde anders.

In der großen Gemeinde muss bei der Auswahl der leitenden Mitarbeiter neben Charakter und Fähigkeiten die Hingabe an die Vision und den Auftrag der Gemeinde geachtet werden. Je größer die Gemeinde wird, desto mehr entwickelt und betont sie gewisse Dienste und Stärken, und die gemeinsame Vision ist ein wichtiger Grund warum Mitglieder beitreten. Daher müssen Führungspersonen sowohl auf ihre Vision als auch auf andere Qualifikationen hin überprüft werden.

Vorstand und Pastorenteam: Doch in der großen Gemeinde muss der Vorstand mit dem Hauptpastor zusammenarbeiten, um eine übergreifende Vision und Ziele festzusetzen und dann den gesamten Dienst zu evaluieren.

In einer großen Gemeinde spezialisiert sich die Rolle des einzelnen Mitarbeiters zunehmend, ebenso die Rolle des Hauptpastors. Er muss sich stärker auf (a) Predigen und (b) Visions- und Strategieentwicklung konzentrieren. Er muss viele oder gar die meisten administrativen Aufgaben loslassen, andernfalls wird er an seine Kapazitätsgrenze kommen und Prozesse werden sich verlangsamen.

Veränderungen: In der großen Gemeinde werden sie „von oben nach unten“ durch Angestellte und leitende Ehrenamtliche in Schlüsselpositionen getroffen.

Wie sie wächst

Die kleine Gemeinde wächst in erster Linie durch neue Gruppen, Kurse und Dienste, die durch den Pastor initiiert werden, manchmal unterstützt durch einen Verbündeten („Hinterhofmethode“). Die mittelgroße Gemeinde wächst hauptsächlich durch Dienste, welche effektiv die Bedürfnisse verschiedener Gruppen wie Jugend, Senioren, junge Ehepaare und „Suchende“ anspricht („Nebentürmethode“). Die große Gemeinde dagegen wächst durch die „Vordertürmethode“. Der Schlüssel zum Wachstum ist das, was im Gottesdienst passiert – die Qualität der Predigt, die Erhabenheit der Anbetungserfahrung usw.

Überschreiten der Schwelle zur nächsten Größenkategorie

Die bereits erwähnten fünf Umbrüche gelten auch auf dem nächsten Level.

Erste Veränderung – Angebote vervielfältigen. Bis zur „800er-Schwelle“ kommen Gemeinden auch mit einem mittelmäßigen oder schwachen Kleingruppensystem über die Runden. Die Leute werden oft weiterhin durch größere Programme, Kurse und Gruppen pastoral versorgt. Aber wenn Gott Ihnen weiterhin neue Leute schickt, so dass die Gemeinde an die 800er-Schwelle stößt, müssen Sie die Mehrheit ihrer Mitglieder und Anhänger in gut geführten Kleingruppen haben, die pastorale Betreuung und nicht nur Bibelstudien anbieten. Mehrere Gottesdienste zu starten war wichtiger beim Überschreiten der 200er- oder 400er-Schwelle, aber eine lebendige Kleingruppenlandschaft ist der Schlüssel um durch diesen Umbruch zu navigieren.

Zweite Veränderung – die Mitarbeiterschaft erweitern. Bis zur „800er-Schwelle“ schaffen es Gemeinden mit einer kleinen Anzahl von Angestellten. Aber nach der 800er-Schwelle ist mehr Spezialisierung notwendig. Angestellte müssen zunehmend begabt sein. Sie müssen mehr als treue Arbeiter sein oder andere in ihrer Arbeit anleiten können. Sie müssen zu Führern von Führungspersonen werden. Sie müssen mündig, unabhängig und fähig sein, andere anzuziehen und zu betreuen.

Dritte Veränderung – Verschiebung von Entscheidungsbefugnis. Bis zur „800er-Schwelle“ wurde die Entscheidungsgewalt immer mehr zentralisiert – sie verlagerte sich vom äußeren Rand (der gesamten Mitgliedschaft) zum Zentrum hin (die Mitarbeiterschaft und letztlich den leitenden Angestellten). Jetzt muss die Entscheidungsgewalt mehr dezentralisiert werden – von den leitenden Angestellten und Pastoren zu den einzelnen Angestellten und ihren Führungsteams. Wie schon erwähnt, müssen die Angestellten zunehmend kompetent sein und ihnen muss in ihren Bereichen mehr Entscheidungsvollmacht gegeben werden, ohne dass sie alles mit dem Hauptpastor oder Vorstand abklären müssen.

Vierte Veränderung – formaler und geplanter in der Aufnahme werden. – Die Eingliederung und Orientierung von neuen Leuten muss noch besser organisiert werden, sehr gründlich stattfinden und gut betreut werden.

Fünfte Veränderung – Anpassung der Rolle des Hauptpastors. Der Pastor ist noch weniger erreichbar für persönliche Seelsorge und konzentriert sich noch mehr auf das Predigen, Lehren von größeren Gruppen sowie die Visions- und Strategieentwicklung.

Im Folgenden gibt Keller einige allgemeine Empfehlungen.

Unvoreingenommen sein

Ein allgemeines Problem in Gemeinden ist, dass viele Menschen die Größe der Gemeinde moralisch (be)werten. Sie sehen die große Gemeinde mit ihrer Kultur nicht als „anders“, sondern als „schlecht“. (Andersherum: Wenn ein Pastor in einer Gemeinde mit 150 Mitgliedern telefonisch nie erreichbar ist, dann führt er die Gemeindekultur, die in eine große Gemeinde gehört, in eine kleine ein, und das führt schließlich zu einer Katastrophe.)

Weil eine sehr große Gemeinde von Veränderungen geprägt ist, wird die umfassende Vision die Gleiche bleiben müssen, aber im Gegenzug sind die wenigsten Programme oder Gewohnheiten unantastbar. Aufgrund ihrer Vielschichtigkeit, ist es nicht sofort klar, wer für was zuständig ist oder wer bei einer Entscheidung mit im Boot sein sollte. Neue Angebote haben vielleicht unvorhergesehene Konsequenzen für andere Programme. Weil der Bedarf an Formalität höher ist, müssen Pläne schriftlich festgehalten und gewissenhaft durchgeführt werden, statt lediglich bei einem Gespräch vereinbart zu werden. In einer sehr großen Gemeinde müssen alle diese Merkmale als ein unausweichlicher Preis des Dienstes gesehen werden. Diese Charakteristika sollten nicht mit Händeringen oder einem moralischen Stellenwert verbunden sein (indem man z.B. Veränderung als „Instabilität“, Formalität als „Unpersönlichkeit“ bezeichnet etc.). Verschiedene Kulturen sind schlicht und ergreifend unterschiedlich und nicht minderwertig oder schlechter.

Kleinere Organe für Entscheidungsfindung bilden

Generell gilt: Je größer die Gemeinde, desto weniger Menschen sollten an einer jeweiligen Entscheidung beteiligt sein. Warum? Je größer die Gemeinde, desto mehr Meinungsvielfalt. Wenn die alten Prozesse für Entscheidungsfindung beibehalten werden, dauert es wesentlich länger Entscheidungen zu fällen und es ergeben sich verwässerte Kompromisse. Wenn eine Gemeinde wächst, muss sie das Fällen von Entscheidungen immer weniger Menschen überlassen, um das gleiche Maß an Fortschritt, Entschlossenheit und Planbarkeit beizubehalten verglichen mit der Phase als sie noch kleiner war. Viele Christen halten die Größenkultur einer sehr großen Gemeinde von vorneherein für undemokratisch und intransparent. Das ist ein Grund dafür, dass viele Gemeinden niemals sehr groß werden oder wieder schrumpfen, sobald sie groß geworden sind.

Mehr kompetente und spezialisierte Mitarbeiter gewinnen, die die Vision verstehen

Studien haben gezeigt, dass Gemeinden mit weniger als 800 Mitgliedern eher seminargeschulte Pastoren haben, doch je größer die Gemeinde wird, desto weniger theologisch ausgebildete Pastoren gibt es im Mitarbeiterstab. Warum ist das so?

Erstens braucht die große Gemeinde Spezialisten in den Bereichen Musik, Finanzen, Sozialarbeit, Kinder- und Jugendarbeit – theologische Seminare bilden aber eher Alleskönner aus. Sehr große Gemeinden brauchen nicht so sehr theologisch ausgebildete Mitarbeiter, die sich in ein Spezialgebiet einarbeiten; sie brauchen vielmehr Spezialisten, die sich theologisch weiterbilden.

Zweitens kann eine große Gemeinde es sich nicht leisten einen Anfänger mit einer steilen Lernkurve zum Verantwortlichen eines großen Dienstbereichs zu machen. In einer sehr großen Gemeinde gibt es vielleicht 300 Jugendliche – und so muss der Bereichsleiter von Anfang an sehr kompetent sein. Je größer eine Gemeinde wird, desto kompetenter müssen ihre Mitarbeiter sein. Der Ruf an die Mitarbeiter verändert sich von „Tu was ich Dir sage“ zu „Geh hin und bewege etwas!“ Einfallsreichtum und Kreativität werden immer wichtiger.

Drittens: Je größer eine Gemeinde wird, desto markanter muss ihre Vision sein. Sie hat ein äußerst feingeschliffenes und durchdachtes Set an Schwerpunkten und Stilen – ihre eigene „Stimme“. Menschen, die theologisch ausgebildet sind bevor sie Teil des Mitarbeiterstabs werden, haben zwangsläufig Ansichten und Haltungen, die von der Gemeindevision abweichen. … Je größer eine Gemeinde wird, desto wichtiger wird es folglich, Führungspersonen aus den eigenen Reihen aufzubauen. Das bedeutet, dass Mitarbeiter, die von außen dazu kommen, sorgfältig in die Geschichte, die Werte, die Kultur etc. der Gemeinde eingeführt werden müssen. Mitarbeiter, die von „innen“ kommen, müssen wiederum bei ihrer theologischen Weiterbildung ausdrücklich unterstützt werden.

Die Rolle des Hauptpastors verändern

Ein entscheidendes und sehr sichtbares Element der Kultur einer großen Gemeinde ist die veränderte Rolle des Hauptpastors. Die Schwerpunkte müssten sich verlagern, hin zur Visionsentwicklung und Predigen für die Gesamtgemeinde. … Ansonsten resultiert der Druck, alles selbst tun zu sollen, im Burnout. Der Hauptpastor, der Mitarbeiterstab, die Bereichsleiter und die gesamte Gemeinde müssen diesen Wandel zulassen.

Vertrauen aufbauen

Schaller zeigt, dass sehr große Gemeinden eher in der Lage sind junge Menschen, Singles, Gemeindenferne und Suchende zu erreichen als kleine Gemeinden. Dann wirft er eine Frage auf: Warum gibt es so wenig große Gemeinden, wenn das Bedürfnis nach ihnen so groß ist? Warum erlauben nicht mehr Gemeinden (a) dem Hauptpastor, weniger verfügbar zu sein, (b) dem Mitarbeiterstab mehr Einfluss zu haben als der ehrenamtliche Vorstand, (c) einer kleinen Gruppe von leitenden Mitarbeitern mehr Entscheidungsvollmacht zu haben als die Mitarbeiterschaft als Ganzes oder die Gemeindeversammlung oder (d) den Bereichsleitern mehr Freiräume zu nutzen, um kompetente Mitarbeiter einzustellen und sich von Generalisten zu trennen?

Seine Antwort ist folgende: Der Schlüssel zur Kultur einer sehr großen Gemeinde ist Vertrauen. Je größer eine Gemeinde jedoch wird, desto mehr müssen die Mitglieder den Mitarbeitern und vor allem dem Hauptpastor vertrauen. Auch wenn die Mitarbeiter (und der Hauptpastor) alles daran setzen müssen, um für Kritik und Beziehungen offen zu sein und so mit den Menschen zu kommunizieren, dass sie sich eingebunden und informiert fühlen, so gilt letztendlich trotzdem: Eine sehr große Gemeinde funktioniert nur mit Vertrauen.

Endnoten

  1. Teilweise zitiere ich direkt; Die Größenangaben der Gemeinden beziehen sich auf den amerikanischen Kontext und sind für Deutschland nur bedingt anwendbar. ↩︎

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