Johanneische Ethik
Die Diskussion um eine johanneische Ethik hat seit ca. zwei Jahrzehnten einen enormen Auftrieb erfahren.1 Sie fragt nach einer Ethik in den Schriften des Johannes (Johannesevangelium, Die Briefe des Johannes, Die Apokalypse des Johannes).
In den letzten Jahren sind eine Reihe von wegweisenden Veröffentlichungen in der neutestamentlichen Wissenschaft entstanden. Die Neutestamentler Ruben Zimmermann (Mainz) und Jan G. van der Watt (Südafrika) haben maßgeblich zu dieser Entwicklung beigetragen. Beide gehören zweifellos zu den Trendsettern einer johanneischen Ethik.2 So ist z. B. das Mainzer Forschungszentrum „Ethik in Antike und Christentum“, u. a. von R. Zimmermann 2009 gegründet, ein wachsendes interdisziplinäres Netzwerk und eine Frucht dieses jungen Forschungszweigs. In der Folge sind weitere Monographien entstanden, die Van der Watt in seinem ersten Band (2019) nicht berücksichtigen konnte.3
Jan G. Van der Watt ist ein profilierter Neutestamentler. Bereits seine Dissertation Family of the King hatte einen großen Wiederhall gefunden. In den letzten Jahrzehnten hat Jan G. Van der Watt überwiegend über die johanneische Ethik geforscht.
In diesem Beitrag rezensiere ich seine Grammar of the Ethics of John. Im ersten Band – 2019 erschienen – geht es um das Johannesevangelium. Der zweite Band liest die johanneischen Briefe aus einer ethischen Perspektive.
A Grammar of the Ethics of John 2019, Vol. 1
Van der Watt, Jan G. (2019). A Grammar of the Ethics of John: Reading John from an Ethical Perspective. Vol. 1. WUNT: Bd. 431. Mohr Siebeck.
704 Seiten. 229,00 €
ISBN 978-3-16-158942-3
Die Monographie A Grammar of the Ethics of John ist „a result of several years of research into the question of Johannine ethics“ (:VII). Und auch wenn zum Teil einige Aufsätze in das Werk eingeflossen sind, so versteht der Verfasser sein Werk als ein Buch, das kohärent und gebündelt die johanneische Ethik im Johannesevangelium (JohEv) darzustellen sucht. In einem zweiten Band sollen die johanneischen Briefe untersucht werden.
Chapter 1: What are they saying about ethics in John?
Kapitel 1 stellt den Untersuchungsgegenstand vor und ordnet die Studie in der jüngeren Forschung ein. Nach einer expliziten Verneinung einer Ethik im JohEv im 20. Jahrhundert folgten Veröffentlichungen um das Jahr 2000, die die bisherigen Prämissen und methodischen Engführungen zu hinterfragen suchten. Mit R. Zimmermanns ‚impliziten Ethik‘ lag schließlich ein kohärenter und umfassender methodischer Entwurf vor, der in der Forschung mehrfach rezipiert worden ist (:11f).4
Anders wie Zimmermann folgt Van der Watt nicht an einer systematischen Methodologie. Vielmehr plädiert er für auf die Ethik fokussiertes Lesen des Textes („Reading John from an ethical perspective“). Dabei möchte er die vergangene Engführung analytischer Kriterien überwinden, den Text multiperspektivisch lesen und nicht nur das what der Handlungen, sondern auch das why interpretieren. Seine Ausführungen sollen sich (der zirkuläre bzw. bildhafte Stil des JohEv erfordert dies) dem Text selbst unterordnen (:13-15). Nichtsdestotrotz verstehen sich die Kapitel 2-4 als Grundlegung dieses hermeneutischen Prozesses und damit als Basis für eine johanneische Ethik (:15).
Weil der Ertrag in der Ethik stark von Annahmen geprägt ist, werden in Kapitel 2 zunächst die drei zentralen Begriffe (ethics, morals, ethos) definiert, die analytischen (heuristischen) Kriterien vorgestellt und die logischen Zusammenhänge ethischer Dimension in Texten („grammar of ethics“) ausgeführt. Während Kapitel 3 die narrative Exegese mit der Ethik ins Gespräch bringt, das Kapitel 4 den sozio-historischen Kontext des JohEv beleuchtet (hier geht es nicht darum, die exegetischen Erträge historisch zu bestimmen, sondern den Text mit einem „synchronically-orientated approach“ wahrzunehmen5 (:99)), wirkt das 2. Kapitel („Approaching an ethical reading in John: Ethics, morals, ethos and other issues“) als die eigentliche Methodologie des „reading John from an ethical perspective“. Daher verdient dieses Kapitel eine umfassende Würdigung hier.
Chapter 2: Approaching an ethical reading of John: Ethics, morals, ethos and other issues
Definitionsversuche in der Forschung belegen, dass ethics als Konzept sich auf zwei Säulen stützt: „what ought to be done (…) and why this ought to be done“ (:23). Als Arbeitsdefinition schlägt Van der Watt drei Aspekte vor:
- Es bedarf eines sich bewussten rationalen Subjekts, das systematisch reflektiert und eine Beschreibung von positiven bzw. negativen Handlungen wagt.
- Eine kritische Reflektion des Verhaltens („behaviour“) in Verbindung mit der Frage warum etwas zu tun sei und was man tun solle. Das Warum tangiert die zu erwartenden Werte, die Motivation, die Annahmen der betreffenden Werte. Das Was bezieht sich auf die zu erwartenden, konkreten Handlungen und Taten.
- Schließlich wird reflektiert, „how the ‚why‘ and ‚what‘ are structurally and logically interrelated“, was als „grammar of ethics“ eines ethischen Systems bezeichnet wird (:23).
„The methodological challenge is to identify ethical data within a text and for that specific analytical categories are needed“ (:24). Die gegenseitige Verbundenheit und Interrelationalität dieser Aspekte bestimmt die ethische Dynamik (ethical dynamics) eines Textes. Diese analytischen Kategorien sollten auf der Basis der Definition der Ethik formuliert werden (:24).
Eine grammar of ethics sieht Van der Watt dann umgesetzt, wenn in einem spiralförmigen Prozess die jeweiligen Einheiten („units, i.e., ethical data in different forms“) erkannt und in systematischer, logischer, kohärenten Struktur zueinander in Beziehung gebracht werden. Als analytische Kategorien ethischer Aussagen werden genannt (:32-54):
- Sprache (Language): Worte und Konzepte mit ethisch-semantischem Potenzial; grammatikalische und syntaktische Phänomene; Mikro- bis Marko-Gattungen; rhetorische Funktionen
- Sozio-kulturelle Einflüsse (Socio-cultural influence): Sprichwörter und Sprüche; Maxime; kulturelle Weisheiten; moralische Autoritäten
- Anthropologische Aspekte (Anthropological focus on ethical aspects)
- Historische, philosophische und kulturelle Kontexte
Wie sind nun die einzelnen ethischen Einheiten zu strukturieren? In diesem interpretativen Prozess ist zum einen der Dynamik des Textes zu folgen und zum anderen der engagierten Vorstellungskraft des Exegeten. Van der Watt geht dabei von folgender Grundprämisse aus:
An important assumption in this regard is that the ethical data identified in the text are expressions of an underlying ‚deeper‘ ethical structure that forms the foundation and framework of the ethical remarks embedded in the text.
Van Der Watt 2019:55
Dabei geschieht dieser konstruktive Akt nicht willkürlich, sondern ist in einem stetigen Dialog mit dem Text selbst zu entfalten. Daher impliziert eine grammar of ethics nicht einen Fokus auf einige wenige ethischen Handlungen, „but is rather a comprehensive procedure, not only looking at actions“ (:56).
Als eines der wichtigen Ziele sieht Van der Watt daher nicht die Darstellung einzelner ethischer Normen, sondern im Verstehen der ethischen Textwelt, die sich am sozio-kulturellen Kontext mit ihren moralischen Akteuren und Gemeinschaften ereignet (:56). Eine johanneische Ethik möchte er „as clearly, as authentically (i.e., based on textual evidence) and as plausibly (i.e., cohesive and logical) as possible“ (:57) entfalten.
Weil es Van der Watt nicht um die einzelnen Handlungen geht, entwickelt er sein Continuum of action formation, das als ein Prozess dargestellt wird, „which human agents interact on the basis of their (shared) social expectations“ (:59). Dabei ist folgende Struktur der Handlungsgestaltung gemeint:
Weltbild > Identität > Werte > Normen/Prinzipien > Vorschrift > Handlungen/Taten
Diese Struktur der Handlungsgestaltung dient Van der Watt als „a heuristic tool to assist in the identification of different aspects in the process of action formation“ und ist so grundlegend, dass der Verfasser dies in einem Anhang auf über 20 Seiten detailliert entfaltet.
Chapter 5: The will of the Father: Faith as the first and basic ethical action
Zentral für die Frage nach einer Grammar of Ethics in John ist Joh 6,28-29, die Van der Watt in den Kontext antiker Ethik einordnet. Es sei daher unmöglich, einzelne Handlungen vom Weltbild her zu treffen (:115). Dabei ist das Werk des Glaubens mit dem Narrativ des JohEv verwoben. Glauben bedeutet demnach:
- (a) „acceptance of Jesus“,
- (b) „cannot be merely intellectual, but must be extistential, influencing moral behaviour“ und
- (c) „involves some knowing; indeed, it is a knowing belief“ (:129-132).
Glauben ist ein „essential relational phenomenon, i.e., relations determine actions“, wobei es primär um eine Haltung zu Jesus geht (:145). Die Beziehung zu Jesus beeinflusst wesentlich das Weltbild und die Identität des ethischen Subjekts, was sich dann in Werten, Normen, Verhaltensweisen, Handlungen zu entfalten hat (:145-147).
Chapter 6: Relations as part of the grammar of ethics of John: Its nature and complexity
Das Kapitel 6 widmet sich dem relationalen Charakter der johanneischen Ethik. Dabei knüpft Van der Watt im Wesentlichen an seine Dissertation Family of the King (2000) an (:151, FN 11). Was lässt sich daraus für eine johanneische Ethik ableiten? Van der Watt formuliert: „It is basically a system where identity, ethical thinking and behaviour of ethical agents are determined by a source external to the ethical agent. This determination is not mechanical, but relational“ (:220). Dabei verbinden sich die verschiedenen Relationen im JohEv (Van der Watt listet 10 Beziehungskonzeptionen auf; :221f) mit der kommunizierten Botschaft des Evangeliums und initiieren ethische Handlungen (:224-226). Und auch hier ist die johanneische Struktur erkennbar: „Behaviour naturally flows from identity and worldview“ (:226).
Chapter 7-12
Kapitel 7 untersucht die ethischen Subjekte (Ethical (A)agents: Representing and mediating good behaviour). Als Figuren mit moralischer Signifikanz sieht der Verfasser den Vater, Jesus, den Heiligen Geist, die Glaubenden, die Weisheit sowie die Schöpfung (:232-276).
In Kapitel 8 geht es die ethischen Güter (Love, light and truth as overarching ethical concepts), wobei der johanneische Dualismus bedacht wird, so dass in diesem Zusammenhang auch die ‚dunkle Seite‘ der Ethik (Hass sowie Finsternis) thematisiert werden. Interessant ist, dass der Verfasser diese Güter in ihrer Trias gemeinsam untersucht und betrachtet. Dies tut er, indem er dualistisch auch die Antonyme erläutert.
In Kapitel 9 stellt der Verfasser die ethische Dimension des Gesetztes im JohEv vor (The Law: Interpretation and discernment). Dabei gehe es im JohEv nicht konkrete Regeln bzw. Gebote. Vielmehr entfaltet es auf dem Hintergrund antiker Ethik mit ihren ‚executive virtues‘ eine umfassende Haltung der Tugend: „For John’s ethics this is signifikant, since John concentrates on such ‚executive ethics‘ by asking for love or righteousness and not formalizing these in specific legal deeds“ (:426).
Nachdem in Kapitel 10 ein mögliches Ethos der johannischen Gemeinde diskutiert wird (Ethos of the Johannine group?) – Mahlgemeinschaft, Fußwaschung, Mission, Tradition und andere Rituale (auf 20 Seiten), werden in Kapitel 11 einzelne ethische Themen wie Stereotype, Gewalt, die Juden behandelt (Specific ethical issues in John?). Van der Watt gibt aber einschränkend zu, dass all diese Themen im JohEv nur im Zusammenhang mit der Christologie stehen (:497).
Auf 35 Seiten unternimmt der Verfasser schließlich eine zusammenfassende und systematische Darstellung der johanneischen Ethik (Chapter 12: A grammar of Johannine ethics: A summarized and systematic presentation of Johannine ethics). Ein umfangreicher Anhangsteil von knapp 100 Seiten mit 11 einzelnen Anhängen zeugt davon, dass die Studie über die Jahre in verschiedenen Entwicklungsstufen gewachsen ist. Eine Bibliographie und verschiedene Indexes schließen die umfangreiche Monographie ab.
Fazit
Van der Watt gelingt es, seine Struktur der Handlungsgestaltung, die in ähnlicher Form in der Literatur der Kulturanthropologie und Missionswissenschaft Anwendung findet, konsequent auf die Lektüre des JohEv anzuwenden. Das wird auch dadurch begünstigt, dass die Kapitel 5-9 eine tabellarische Zusammenfassung bieten (siehe insbesondere :541f). Die Grammatik der Ethik im JohEv ist demnach „a holistic structure, including the why and the what of ethical performances. Aspects like worldview, values, identity, principles, and prescribed behaviour all play specific roles in the ethical process“ (:538). Die zentralen Themen der johanneischen Ethik sieht Van der Watt in folgenden Kernthemen:
The grammar of Johannine ethics may be divided into several such ‚central points‘ that are interrelated and also overlap to some extent: a) The origin and seat of ethics are clearly defined as being divine; b) the way this divine ethical knowledge is made available, is through revelation by the incarnated Son: these two points are constitutive for ethical formation; c) faith is the first basic response in acceptance of this ethical information; it implies an intimate relationship as framework within which ethical behaviour unfolds; and d) following on this resocialization into the family of God, being friends and followers: the relevant ethical knowledge following this resocialization must be expressed in words and actions. This takes various forms, namely, love, honouring God, obedience, care, service, giving life, missionary agency, following the values expressed by the Decalogue (as Jesus interpreted it), and maintaining a proper lifestyle in society as long as it does not come into conflict With the will of God, as expressed in the Jesus tradition.
Van Der Watt 2019:538
Mit dem aufs Ganze angelegten Schema der Handlungsgestaltung gelingt es Van der Watt durchgehend und konsequent, einseitige Konzepte wie z. B. das Indikativ-Imperativ-Schema zu umgehen. Denn GLAUBEN ist gemäß Van der Watt selbst „the central ethical action in John“ (:145). Instruktiv ist auch Van der Watts Vorschlag, im johanneischen Narrativ neben einer two-level story (vgl. Louis Martyn; Drews 2017:14) eine dritte Ebene (third level) zu sehen, wonach die einzelnen Storys in die Meta-Erzählung eingebunden werden. Daraus ergibt sich ein heuristischer Aspekt für die johanneische Ethik (:78-79).
Hervorzuheben sind auch die vielen tabellarischen Übersichten, Grafiken und Anhänge mit Themen wie „Education within ancient families“, „What does the cleansing of the temple tell us about ethics?“ usw.
Gleichwohl bleibt beim Lesen die spezifische Genese der Monographie (s. o.) spürbar. Das Werk wirkt eher wie ein Hauptpfad, von dem aus dann immer wieder Ausflüge auf kleineren Nebenpfaden unternommen werden (siehe die vielen Exkurse und Anhänge, z. B. „Philo, as Hellenistic Jew, on desire“, :397-401), als eine asphaltierte Straße mit Leitplanken zur johanneischen Ethik, was der Begriff Grammar im Titel irgendwie transportiert. Das ist nicht weiter schlimm, wenn man weiß, was man zu erwarten hat.
Die Stärke von Van der Watts Werk sind die Fülle an Einsichten in die johanneische Denk- und Ethik-Welt, das kreative Momentum der Nebenpfade und die stringente Anwendung seiner Struktur der Handlungsgestaltung (vom Weltbild zur Handlung). Zu empfehlen ist die Monographie allen denjenigen, die einen Meta-Entwurf zur johanneischen Ethik suchen. Einsteigern in Bezug auf die Ethik bei Johannes seien die Kapitel zwei (approach), fünf (faith), sechs (relations) und sieben (agents) empfohlen.
A Grammar of the Ethics of John 2023, Vol. 2
Quellen
1 Brown, Sherri & Skinner, Christopher W. (Hg.) 2017. Johannine ethics: The moral world of the Gospel and Epistles of John. Minneapolis, Minn.: Fortress Press.
2 Im kürzlich erschienenen The Oxford Handbook of Johannine Studies ist es J. G. van der Watt, der den Artikel „Ethics in Community of the Gospel and Letters of John“ (S. 363-380) liefert.
3 Drews, Alexander 2017. Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium. Tübingen: Mohr Siebeck. (Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik VIII; WUNT 431).; Zimmermann, Ruben/ Stephan Joubert (Hg.) 2017. Biblical Ethics and Application. Purview, Validity, and Relevance of Biblical Texts in Ethical Discourse. Tübingen: Mohr Siebeck (Kontexte und Normen der neutestamentlichen Ethik/Contexts and Norms of New Testament Ethics, vol. 9, WUNT 384); Rahmsdorf, Olivia 2019. Zeit und Ethik im Johannesevangelium. Theoretische, methodische und exegetische Annäherungen an die Gunst der Stunde. Tübingen: Mohr Siebeck (Contexts and Norms of New Testament Ethics, vol. 10, WUNT II/488).
4 Siehe Zimmermann, Ruben 2016. Die Logik der Liebe: Die ‚implizite Ethik‘ der Paulusbriefe am Beispiel des 1. Korintherbriefs. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener. (BThS, 162); Drews, Alexander 2017. Semantik und Ethik des Wortfeldes »Ergon« im Johannesevangelium. Tübingen: Mohr Siebeck. (WUNT 431; Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik, Bd. VIIIBd).
5 Van der Watt wehrt sich dagegen, ein solches Unterfangen per sé als nur textimmanent oder a-historisch zu sehen. Vielmehr ist seiner Ansicht nach der Text selbst ein historisches Phänomen, das definitiv eine spezifische historische Situation reflektiert (2019:99).