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Die Erzählung über Jairus’s Daughter and the Haemorrhaging Woman (Die Tochter des Jairus und die unter Blutfluss leidende Frau) kommt in allen drei synoptischen Evangelien vor (vgl. Mk 5,21-43; Mt 9,18-26; Lk 8,40-56).

Jairus’s Daughter and the Haemorrhaging Woman methodisch unterschucht

Das Ziel der Monographie Jairus’s Daughter and the Haemorrhaging Woman: Tradition and Interpretation of an Early Christian Miracle Story von Arie W. Zwiep ist es, die Erzählung von der Auferweckung der Tochter des Jairus und der Heilung der blutflüssigen Frau aus verschiedenen methodologischen Perspektiven zu analysieren. Zwiep möchte ein vertieftes Textverständnis erreichen und prüfen, ob einige der bisherigen methodischen Zugänge einer Revision bedürfen. Insofern möchte seine Arbeit „not only be a help for the guild of biblical studies, but for the interpretation sciences in general“ (1).

Arie W. Zwiep ist Professor für Hermeneutik an der Vrije Universiteit Amsterdam. Seine Forschungsgebiete liegen in den Studien zum Lukasevangelium und der Apostelgeschichte, den Synoptikern und dem historischen Jesus. Zwiep ist auch Vize-Dekan und Dekan für Bildung an der Fakultät für Religion und Theologie.

In diesem Beitrag rezensiere ich seine Monographie über die Perikope Mk 5,21-43; Mt 9,18-26; Lk 8,40-56, die den Autor bereits seit 2004 beschäftigt.

Rezension

Zwiep, Arie W. 2019. Jairus’s Daughter and the Haemorrhaging Woman: Tradition and Interpretation of an Early Christian Miracle Story. Tübingen: Mohr Siebeck. (WUNT, 421).

454 Seiten. 159,– €
ISBN 978-3-16-157560-0

Jairus’s Daughter and the Haemorrhaging Woman – Rezension 2024

Zwiep analysiert die Erzählung über die Tochter des Jairus und die unter Blutfluss leidende Frau. Ein Meta-Ziel seiner Arbeit ist eine Methodenreflexion: „And in all this it is about method“ (1).

History and Research

Nach einer kurzen hinführenden Einleitung stellt Zwiep die unterschiedlichen Interpretationsversuche und Ansätze vor. Beachtenswert ist, dass er dabei die gesamte Auslegungsgeschichte (beginnend mit der Patristik) sichtet. Somit erhält der Leser Einblicke in konkrete Harmonisierungsversuche, die allegorische Interpretation der Perikope, die historisch-kritische Interpretationsangebote, die formkritischen Perspektiven, einige diachrone und literarkritische Interpretationsversuche sowie kontextuelle Auslegungen wie etwa die feministische, psychoanalytische und postkoloniale (z. B. Studien über die an Blutfluss leidender Frau im Lichte HIV / AIDS in Afrika) Exegese (7–41). In allen Interpretationsversuchen erkennt er einen Konsens darin, (1) dass jedes Evangelium mit seiner Erzählung für sich untersucht werden muss, (2) dass die markinische Priorität angenommen wird und (3) dass der literarische (narrativ-kritische) Zugang die Basis der exegetischen Arbeit ist (42).

Aufbau und Struktur der Monographie

Zwiep’s Monographie ist neben der Interpretation der Perikope auch ein Lehrbuch über die methodische Umsetzung der Exegese. Dabei geht es ihm darum, die traditionelle historisch-kritische Analyse mit neueren Zugängen und Interpretationsmethoden (Oralität, Schriftlichkeit, Performanzkritik) zu verbinden bzw. integrieren (43).

The present investigation intends to fill the gap by offering an integrative (interdisciplinary) approach, informed by exegetical, historical-critical, literary and hermeneutical considerations (42).

In Kapitel 2 („Text and Translation“) werden die jeweiligen Perikopen des Markus-, Matthäus- und Lukasevangeliums jeweils und in einem Vers-für-Vers-Modus untersucht („Lexical, Syntactical and Semantic Notes…“). Diesen Analyseschritt schließt der Autor mit einigen grundlegenden hermeneutischen Einsichten: (1) Die Evangelisten unterscheiden sich im Stil. (2) Die Fülle der modernen Übersetzungen zeigt, was alles möglich ist. (3) Die philologische Methode macht bewusst, wie wichtig es ist, dass der Exeget sich seiner Methoden und Vorannahmen bewusst wird. (4) „Texts are dumb; they need to be activated by a reader or interpreter who will always bring his or her own subjectivity and historicity“ (102). (5) Jede Übersetzung spiegelt die eigenen kulturellen und sozialen Komponenten des Übersetzers. (6) Jede Übersetzung eines Textes ist ein „wirkungsgeschichtliches phenomenon“ (102). Insofern steht es nicht am Anfang vor der Interpretation, sondern ist Teil des hermeneutischen Zirkels (102).

In Kapitel 3 untersucht Zwiep „the structure, architecture and coherency of the pericopes“ (103) der Erzählung von Jairus‘ Tochter und der blutflüssigen Frau. Er analysiert, wie die jeweilige Perikope im jeweiligen Evangelium eingebettet ist und welchen Aufbau es in sich hat (104–19). Im nächsten Schritt unter „Literary Motifs of Miracle (Healing) Stories“ stellt er zunächst die klassische „list of motifs“ von Gerd Theissen dar, die aus 33 einzelnen analysiert Aspekten besteht (123–25). „Motifs (…) are the smallest independent narrative units (‚building blocks‘) that make up a story“ (123). Die Perikope des jeweiligen Evangeliums wird anschließend daraufhin ausgewertet (125–36). Im Ergebnis kommt auch hier die Rolle des Lesers durch („readers are users of texts and their own use does not always follow the rules of a form-critical-textbook“, 137), so dass die Perikope evangelistische, pastorale, christologische u. a. Leseperspektiven eröffnen kann (136f).

„Tradition und Redaction“ sind das Thema des 4. Kapitels. Sowohl die Traditions– als auch Redaktionsgeschichte „depend to a large degree upon prior decisions taken with regard in the Synoptic problem“ (141). Im Ergebnis postuliert bzw. bestätigt Zwiep die markinische Priorität gegenüber Matthäus (171). Weiterhin ist Markus – auch wenn eine starke Evidenz für einen eigenen markinischen Stil steht – nicht der Erste, der diese Erzählung tradiert hat. Ob allerdings schon vor Markus beide Geschichten als eine Erzählung überliefert worden sind, kann nicht entschieden werden (154). Gänzlich anders ist es bei Lukas, der diese Erzählung in die Meta-Struktur seines zweibändigen Werkes einbindet und „that Luke had access to documentary sources other than Mark“ (186f). Nur Markus und Matthäus hängen damit literarisch zusammen (171).

Mit Kapitel 5 („Orality and Performance“) verlässt Zwiep die reine Textebene („In other words, we treated them as products of scribality“, 189) und wendet sich der Kommunikation ‚von Mund zu Ohr‘ („communication from mouth to ear“, 190) zu. Dabei geht es ihm wesentlich darum, nicht eine vor-markinische literarische Quelle zu postulieren als vielmehr Einsichten zur mündlichen Überlieferung und der Performanzkritik fruchtbar für das Verstehen der Perikope zu machen (191).

„This in turn, may be helpful to reduce the ‚ugly ditch‘ between the early Jesus-tradition in the 30s and its first written testimonies around 70 CE, or at least it will hopefully provide more insight into its width.“

Zwiep 2019:191.

Das Ergebnis ist ernüchternd, wenn man denn eine historische Rekonstruktion des mündlichen Prozesses erwartet (220f). Zwiep resümiert: (1) Markus weist die meisten „orality markers“ auf, während Matthäus und Lukas „demonstrate a higher degree of literacy“ (221). (2) Markus ist definitiv nicht der Erste, der die Erzählung tradiert hat. (3) Unterschiede und ‚Widersprüche‘ zwischen den Synoptikern fallen viel weniger ins Gewicht, wenn man die Forschung zur Oralität berücksichtigt. (4) Zwiep formuliert ein historisches Fazit: „I find it likely that the story of the raising of Jairus’s daughter and the episode of the healing of the haemorrhaging woman were part of the Jesus tradition already in its oral (Aramaic) stage of transmission, probably as two separate stories“ (221).

Das umfangsreichste 6. Kapitel (56 Seiten) vollzieht eine narrative Exegese („Story and Narrative“) der Perikopen. Zentral für diesen Schritt war erneut der Bezug der einzelnen Perikope zum Text und Kontext des jeweiligen Evangeliums (276). Daher ist für Markus diese Erzählung „dramatic illustrations of the powers of the Kinddom entrusted to Jesus and the appropriate stance (faith commitment)“ (276f). Matthäus hat die Erzählung im Lichte von Jes 49,7 (LXX) dargestellt und Lukas hat die Heilungswunder in die größere Proklamation der Herrschaft Gottes eingebettet und Jesus als Retter (Lk 2,11) und Autor des Lebens (Apg 3,15) dargestellt (277).

Das Kapitel 7 („Summary and Conclusions“) fasst alle wesentlichen Erträge der Monographie zusammen (278–85). Die drei Anhänge („Text and Transmission“, „Text and Intertext“ und „Reception und Wirkung“; 287–45) sowie Bibliographie und ein Stellen-, Autoren- und Sachindex (347–54) ergänzen die Ausführungen im Haupttext der Monographie.

Würdigung

Arie W. Zwieps Monographie „Jairus’s Daughter and the Haemorrhaging Woman“ ist eine interessante Studie, die sich gerade durch das Zusammenspiel verschiedener exegetischer Methoden („not by definition all natural bed-fellows, to put it mildly“, 282) auszeichnet. Konsequent plädiert Zwiep für die Rolle des Lesers im Auslegungsprozess: „the interpreter must constantly fill the (narrative and ideological) ‚gaps'“ (282).

Überzeugend und weiterführend ist Zwiep’s Anwendung der exegetischen Einzelschritte auf eine einzelne Perikope.1 Über die gesamte Studie hinweg zeigt sich die hohe hermeneutische Expertise des Autors, der sich stets bewusst ist, was und warum er was tut. Die eigenen methodischen Reflexionen sowie die Integration der Oralität und der Performanzkritik gehören zu den Highlights dieser Arbeit.

Auch wenn Zwiep klassischerweise von der Zwei-Quellen-Theorie in der synoptischen Frage ausgeht, die er hauptsächlich aus pragmatischen Gründen wählt2, zeigt er indirekt auch die Komplexität im Überlieferungsprozess und dass einfache und (nur) literarische hier nicht genügen (vgl. hierzu jüngst Riesner 2023:12)3.

Das hohe Reflexionsniveau des Autors zeigt sich auch darin, dass er drei „Leerstellen“ („gaps“) seiner Studie offen legt. Offen bleiben die Frage nach der Historizität („what really happened“), eine Aktualisierung der Perikope für die heutigen Leser (z. B. mit Hilfe einer „speech-act analysis“) sowie – wie heute modern – konkrete kontextuelle Zugänge („My work was focused on the more traditional (or historical-critical and literary) aspects of biblical exegesis“) (283–85). Man kann dies bemängeln, aber man wird dies auch akzeptieren müssen. Denn schließlich ist der Verfasser mit seinem Ansatz und seinen Grenzen von Anfang an transparent und methodisch kohärent.

Bedenkenswert bleibt das Postulat:

„In the end, texts are mute and it all comes to the reader. In this work I have offered my reading, others, both readers and users, are invited to offer theirs.“

Zwiep 2019:285.

Wie Zwiep selbst offen legt, liegt so eine Aussage letztlich auf der Ebene der Vorannahmen (Prämissen). Diese berühren wiederum die philosophische und weltanschauliche (283) Sichtweise. Andere haben sich jüngst gegen den Absolutheitsanspruch des Lesers und für eine Renaissance des Autors sowie des Textes ausgesprochen.4 Keineswegs ist diese Aussage Zwieps wohl auch absolut gemeint, denn schließlich zeigt er selbst in seiner Methodologie eine hohe Achtung vor dem Text und eine Wahrnehmung der individuellen Intention der Evangelisten.

Die Monographie könnte sich sehr gut im Lehrbetrieb in einem exegetischen Proseminar und in einführenden Vorlesungen zu den Evangelien eignen. Der Start bei einer Perikope begünstigt den induktiven Ansatz in der Pädagogik. Anhand dieser Perikope könnten Studierende didaktisch angeleitet werden, die grundlegenden Kompetenzen der neutestamentlichen Wissenschaft (Exegetische Methodik, synoptische Frage, wissenschaftliche Methodenreflexion u. a.), zu erwerben.


Endnoten

  1. Damit steht Zwiep in der Tradition einiger anderer Forscher der letzten zwei Jahrzehnte, die ebenfalls nur einen Abschnitt aus den Evangelien analysiert haben. Siehe dazu z. B. die Studien:
    Koester, Craig R. The Healing of the Blind Man in John 9: A Narrative-Critical and Theological Study (2003), Verlag: Mohr Siebeck
    Chilton, Bruce D. The Cleansing of the Temple: A Narrative and Theological Analysis (2004), Verlag: Mohr Siebeck
    Bauer, David R. The Temptation of Jesus in the Gospel of Matthew: A Redaction-Critical Study (2005), Verlag: Mohr Siebeck
    Kloppenborg, John S. The Feeding of the Five Thousand: A Study in the Synoptic Tradition (2006), Verlag: Mohr Siebeck
    Dunn, James D. G. The Baptism of Jesus in the Jordan: A Study in the Synoptic Tradition (2007), Verlag: Mohr Siebeck
    Schnabel, Eckhard J. The Parable of the Tenants in Its Synoptic Tradition: A Textual, Redactional, and Literary Analysis (2008), Verlag: Mohr Siebeck
    Levine, Amy-Jill The Parable of the Good Samaritan: A Narrative and Theological Study (2010), Verlag: Mohr Siebeck
    Gundry, Robert H. The Transfiguration of Jesus: A Narrative and Theological Study (2012), Verlag: Mohr Siebeck
    Thompson, Marianne Meye The Raising of Lazarus: A Narrative and Theological Study (2015), Verlag: Mohr Siebeck. ↩︎
  2. Zwiep reflektiert auch, welche Folgerungen seine Einsichten hätten, wenn man der Griesbach-Hypothese bei der synoptischen Frage folgen würde (vgl. 142f). ↩︎
  3. Riesner, Rainer 2023. Jesus als Lehrer: Frühjüdische Volksbildung und Evangelien-Überlieferung. 4., vollst. neubearb. Aufl. (WUNT, 504). ↩︎
  4. Vgl. Stettler, Christian 2017. Das Endgericht bei Paulus: Framesemantische und exegetische Studien zur paulinischen Eschatologie und Soterologie. Tübingen: Mohr Siebeck. (WUNT II, 371), S. 78–92. ↩︎

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