Jesus als Lehrer – ist in der Forschungsdisziplin Christian Education ein beliebter Titel. Meist wird in diesem Zusammenhang gefragt: Wie war Jesus als Pädagoge? Und was kann das für eine christlich motivierte Pädagogik bedeuten?

Aber der Titel Jesus als Lehrer ist auch ein Stück neutestamentlicher Forschungsgeschichte. Im Jahr 1980/81 wurde Rainer Riesner mit diesem Thema an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen promoviert. Mehr als 40 Jahre später hat er nun die 4. Auflage dieses monumentalen Werks veröffentlicht. Dabei hat er seine Monographie um die Third Quest for Jesus, die neuere sozialgeschichtliche Erkenntnisse über Judäa und Galiläa und die Texte aus Qumran erweitert.

40 Jahre Forschungsgeschichte

Rainer Riesner war 15 Jahre Professor für Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie an der Universität Dortmund. Seit 2013 ist er Professor im Ruhestand.

In diesem Beitrag rezensiere ich seine 2023 in einem Umfang von 864 Seiten erschienene Arbeit, die bereits in den Jahren 1981, 1983 und 1988 veröffentlicht wurde.

Rezension

Riesner, Rainer 2023. Jesus als Lehrer: Frühjüdische Volksbildung und Evangelien-Überlieferung. 4., vollst. neubearb. Aufl. (WUNT, 504).

864 Seiten. 129,– €
ISBN 978-3-16-162497-1

Riesner 2023 – Jesus als Lehrer

Riesner formuliert seine Fragestellung klar: „Die Rückfrage nach einem möglichen Ursprung der Evangelien-Überlieferung bei Jesus selbst ist das Hauptthema der vorliegenden Untersuchung“ (:158). Es geht dem Autor um „die Rolle, die Lehren und Lernen der Sache nach in der vorösterlichen Verkündigungssituation Jesu gespielt haben … [und] um die äußere, sozusagen ‚technische‘ Seite der Verkündigung Jesu“ (:182). Die Monographie widmet sich dieser „historischen Vorarbeit“ (:182).

Die Monografie hat einen klaren Aufbau:

  • Kapitel 1: Die Jesus-Überlieferung
  • Kapitel 2: Die Frühjüdische Volksbildung
  • Kapitel 3: Die Lehrautorität Jesu
  • Kapitel 4: Die Öffentliche Lehre
  • Kapitel 5: Die Jüngerlehre

Entgegen der 3. Aufl. (1988) wird das ca. 20seitige Nachwort in den Haupttext eingearbeitet. Die Zusammenfassung am Schluss bleibt mit ca. vier Seiten überschaubar. Ein Inhaltsverzeichnis und eine Leseprobe hat der Verlag Mohr Siebeck hier bereitgestellt.

Kapitel 1: Die Jesus-Überlieferung

Jesus interessiert, auch im 21. Jh.! Die oft zu unrecht gescholtene Gen Z interessiert sich zum Beispiel für Jesus (77% der Jugendlichen sind motiviert, mehr von Jesus zu erfahren). Die entscheidende Frage der Wissenschaft ist: Wie tragfähig sind die Quellen? (:1).

1. Die synoptische Frage

Auch wenn es lange so schien, überzeugen einfache Lösungen (Zwei-Quellen-Theorie, Q-Hypothese usw.) nicht (:4–9).

„The scholarly community of New Testament experts has cut itself very badly with Occam’s Razor.“

John C. O’Neill bei Riesner 2023:9

Vorzuziehen sind komplexere Erklärungsansätze, die Einbeziehung des mündlichen Faktors und das Rechnen mit einem mehrstufigem Prozess (:10f). Riesner fordert, von einem breiten Traditionsstrom auszugehen und den Einfluss von Nebentraditionen nicht zu unterschätzen (:12).

2. Von der ‚klassischen‘ Formgeschichte zum ‚Erinnerten Jesus‘

Die klassische Formgeschichte von Martin Dibelius und Rudolf Bultmann hat trotz vielfältiger und berechtigter Kritik im Verlauf des 20. und 21. Jh. eine Zähigkeit und einen enormen Überlebenswillen bewiesen (:16–18). Riesner macht sich die Mühe und problematisiert bekannte Thesen der Formgeschichte:

  • Propheten-Hypothese – Urchristliche Prophetensprüche wurden im großem Ausmaß nachträglich als Worte des irdischen Jesus angesehen und übernommen (:18–21).
  • Kollektivistisches Literaturverständnis – Die Evangelien seien wie andere antike Werke Produkte gemeinschaftlicher Volksdichtung, in denen individuelle Zeugen keine Rolle spielten (:22–24).
  • Zeitlose Überlieferungsgesetze – Die Überlieferung sei strikten, deterministischen Gesetzen gefolgt und habe dadurch spezifische ‚Formen‘ hervorgebracht (:24–26).
  • „Reine Formen“ – Viele Urteile über die Unechtheit der Überlieferung postulierten eine Abweichung von einer ursprünglichen ‚reinen Form‘ (:26–28).

Die ‚klassische‘ Formgeschichte hat die Bedeutung der mündlichen Überlieferung und die Existenz der Evangelientradition innerhalb christlicher Gemeinden betont (:28f). Zeitgleich hat sie aber durch fragwürdige Annahmen und kollektivistischen Konstrukte den Überlieferungsprozess überfrachtet und konnte auch in der Detail-Analyse nicht überzeugen (:29).

Was aber bewirkte die Third Quest of Jesus? Bezeichnend war für diese Phase der Frage nach Jesus (N. T. Wright, 1988) „1) der Verzicht auf christologische Deutungsmuster, 2) den Bezug zur Sozialgeschichte, 3) das Ernstnehmen des jüdischen Kontextes und 4) die Berücksichtigung außerkanonischer Überlieferungen“ (Winter bei :30).

Einigen fruchtbaren Jesus-Darstellungen folgte dann der Trend hin zur Bedeutung des „sozialen Gedächtnisses“. Dieses Konzept des social memory geht davon aus, dass individuelle Erinnerungen „auch immer stark von den Vorstellungen der erinnernden Gemeinschaft geprägt“ sind (:32). Die Tragfähigkeit von Erinnerungen wird auch in der modernen Gedächtnisforschung unterschiedlich (pessimistisch vs. optimistisch) bewertet (:32f). Auch hier ist die Forschung nicht zu einem Konsens gekommen: Sie schwankt zwischen Zuversicht und Skepsis des kollektiven Gedächtnisses (:33f).

3. Der Weg der Überlieferung

Riesner setzt in der „Zuverlässigkeit der vorsynoptischen Jesus-Überlieferungen“ bei den synoptischen Evangelien selbst an. Eine andere Möglichkeit stellt sich seiner Ansicht nach nicht. Wie historisch verlässlich sind die synoptischen Evangelien? Wieviel Zugang hatten ihre Verfasser zu Traditionen von Augen- und Ohrenzeugen? Wie bewahrend wollten die Evangelisten schreiben?

„Nur wenn man in beiden Fällen eine positive Antwort geben kann, ist es sinnvoll, die weitergehende Frage nach der historischen Tragfähigkeit der vorsynoptischen Traditionen zu stellen.“

Riesner 2023:37

Riesner möchte daher bewusst historische Annahmen offen legen, wenn er „das Bild von der Entstehung, Entwicklung und Gestalt der urchristlichen Bewegung im 1. Jahrhundert“ untersucht (:37). Dieser Grundfrage nähert er sich mit äußerster Akribie und Gründlichkeit. Daher werden zunächst acht grundlegende Aspekte der Überlieferung behandelt1, bevor ein „Versuch einer Synthese: Von Jesus zu den synoptischen Evangelien“ (:127-138) nachgezeichnet wird. Dabei zeichnet Riesner konsequent – was leider nicht selbstverständlich für Teile deutscher Forschung scheint – die Stimmen internationaler (angelsächsischer) Forschung nach. Ab S. 75ff erweitert er seinen bisherigen Ansatz (3. Aufl.) um weitere „Themen und Probleme“ der Forschung. Insgesamt entfaltet Riesner in Teilen bemerkenswerte Thesen:

  • Die synoptischen Evangelien möchten den Übergang von den Urzeugen um das Jahr 70 n. Chr. fixieren (:49). Das ist im Wesentlichen ihr Sitz im Leben.
  • Die Synoptiker werden ihre Evangelien vor 70 n. Chr. verfasst haben (:41f, 45, 48). Alle Evangelien haben einen ‚historischen Aussagewillen‘ (:53f). Das „christlich-apokryphe Material“ konnte diese Erwartungen nicht erfüllen (:2).
  • In Bezug auf den Mündlichkeitsfaktor wählt Riesner einen Mittelweg im Sinne einer Schulüberlieferung mit einem Mix aus „Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (:87).
  • Bei der Praxis der Überlieferung stellt er sieben Gruppen von Akteuren vor, die sich an einer „‚gepflegte[n] Überlieferung“ beteiligt hatten: Petrus, die Zwölf und die Jerusalemer Urgemeinde; die Großfamilie Jesu, die „Hebräer“ (Lk 24,18; Apg 6,1) und galiläische Frauen; der johanneische Kreis; Matthäus und das Judenchristentum in Galiläa, Dekapolis und West-Syrien; die „Hellenisten“ (Apg 6,1) und Antiochien; die bekehrten Priester und der Levit Barnabas; Paulus, seine Mitarbeiter und die Gemeinden (:98-119). Damit entfaltet Riesner ein Szenario der Überlieferung, das sich nicht primär in den Studierstuben der Evangelisten abgespielt hat, sondern mitten im Verkündigungsalltag und Leben der Gemeinden. Die Jesus-Überlieferung wird damit zur Sache der ‚kleinen Leute‘, wobei damit keineswegs ein ungebildetes Proletariat (gegen F. Overbeck, M. Dibelius, A. Deißmann) gemeint sei. Eine hohe Bildung der Christen wird jüngst in der Forschung postuliert, was man durchaus als „neuen Konsensus“ bezeichnen kann (:119–123).2
  • Die altkirchliche Überlieferung, wonach Johannes Markus als Hörer und Mitarbeiter von Petrus war, wird überzeugend begründet (:38–42; 123–126).
  • Papias, der Bischof von Hierapolis, wird als verlässlicher antiker Historiker gewürdigt und die Existenz der Evangelien als „Vier-Evangelien-Sammlung“ in Ephesus beim Johannes-Kreis (Polykarp von Smyrna, Irenäus von Lyon) erwogen (ältere Theodor-Zahn-These; :126–127).
Synthese: Von Jesus zu den synoptischen Evangelien

Für Riesner steht fest: Die synoptische Frage krankt daran, dass in der Forschung stets nur einige Bestandteile überzeugend erklärt werden, aber das Phänomen selbst nicht umfassend genug. Daher ist nur ein „komplexes Modell“, das möglichst viele Einzelphänomene einbezieht, auf Dauer überzeugend (:127f).

„Gerade auch viele ältere Exegeten [z. B. Wilhelm Bussmann, Paul Feiner] zeigen aber eine bemerkenswerte Sensibilität gegenüber der Komplexität der synoptischen Frage.“

Riesner 2023:128

Delbert Burkett (Gospel Sources, 2004) folgend postuliert Riesner eine literarische Unabhängigkeit(!) zwischen den ersten drei Evangelien (:128). Riesners Modell der Jesus-Überlieferung zeigt die Fülle an Quellen und verbindet die mündliche und literarische Überlieferung organisch miteinander.

Riesner 2023:129

Riesner führt ergänzend an: Die in der hellenistischen Pädagogik und im Judentum übliche Methode des Memorierens unterstützte eine Worttreue der Jesus-Überlieferung (:133–136).

„Am Anfang des Urchristentums stehen klar umrissene ‚Persönlichkeiten‘.“ – Martin Hengel

Bei Riesner 2023:139

Daher ist die in die Evangelien eingemündete Jesus-Überlieferung „im engen Kontakt mit den Augen- und Ohrenzeugen erfolgt“ (:139). Deshalb sind die ‚alten Thesen‘ von Martin Dibelius, Rudolf Bultmann u. a., dass anonyme, ungebildete Kollektive, die nur durch praktische (nicht historische) Interessen geleitete Gruppen (M. Dibelius, R. Bultmann) und der Einbezug ‚fremder Stoffe‘ aus anderen religiösen Zirkeln (R. Bultmann) die Jesus-Story ausgeschmückt hätten, nicht überzeugend. Man wird sogar mit einer „‚gepflegten‘ Überlieferung“ vor den Osterereignissen rechnen müssen (gegen K. A. Bailey, J. D. G. Dunn, J. Schröter).

Vielmehr ist mit E. A. Judge, K. Haacker, C. K. Barrett von einer Kontinuität „zwischen der späteren Gestaltwerdung der urchristlichen Gemeinden und dem Auftreten Jesu“ auszugehen (:139). Riesner möchte dann im Folgenden begründen, dass Jesus selbst als messianischer Lehrer dieses „Traditionskontinuum zwischen der vor- und nachösterlichen Zeit“ initiiert hat (:140).

4. Der Ursprung der Überlieferung

Inwiefern hat Jesus selbst die (vorösterliche) Überlieferung bewirkt? Hat er etwa wie ein jüdischer Rabbi gelehrt und damit eine Lehrtradition begründet? Positiv auf diese Fragen haben Clemens Alexandrinus sowie Irenäus von Lyon geantwortet (:141). Riesner sichtet dann im Folgenden sämtliche wissenschaftliche, erbauliche, dogmatische und populärwissenschaftliche Veröffentlichungen seit dem 19. Jh. (:142–157). Riesner stellt fest, die Antwort auf die Fragen stark mit der Herkunft, dem Bildungsmilieu Jesu und seinem Autoritätsanspruch zusammenhängt (:157). Entscheidend ist zudem, welches Bild man sich „von den nachösterlichen Gemeinden, ihren prägenden Gestalten und deren Weitergabe von Traditionen macht“ (:158).

5. Die Analyse der Überlieferung

Dieser Teil ist das methodische Herz der Studie. Riesner legt seine Annahmen und Herangehensweise offen. So plädiert er für Intersubjektivität bzw. einen kritischen Realismus in der historischen Forschung (:159–162) und eine Priorität und Wertschätzung der Quellen (:162f). Er hinterfragt die Annahme einer prinzipiellen Skepsis (so R. Bultmann, A. Scriba; :163–167) und spricht sich für die Haltung einer „kritischen Sympathie“ des Historikers aus (:167f).

Die substantielle Echtheit [S. 169] synoptischer Überlieferung darf erwartet, ihre Unechtheit muss begründet werden.

Riesner 2023:167

Im Folgenden definiert Riesner Echtheit als ein historisches Urteil, „ob ein tradierter Ausspruch als solcher auf den irdischen Jesus zurückgeht“ (:169). Nachdem er die 50jährige Forschungsdiskussion gesichtet hat (:170, Fussnote 85-86), formuliert er elf grundsätzliche Kriterien und nimmt ihre Einordnung vor, die in Ergänzung zueinander ein historisches Urteil verlässlich machen (:171-177.179-182).

Kapitel 2: Die Frühjüdische Volksbildung

Um im Ergebnis Aussagen über die Bildung Jesu machen zu können, untersucht Riesner mit historischer Akribie die drei jüdischen „Volksbildungstraditionen“: Das Elternhaus, die Synagoge und die Elementarschule (:189-314). Dies ist methodisch sinnvoll, da es kaum direkte Hinweise zur Bildung Jesu gibt (:185). Drei Exkurse (Literatur zur alttestamentlich/ frühjüdischen Bildung; Auswendiglernen im Alten Testament; Babylonischer Talmud, Baba Bathra 21a) ergänzen die Ausführungen.

Im Blick auf die Bildung Jesu kommt Riesner dann zu folgenden Ergebnissen: Gemäß sämtlichen ältesten Quellen besaß Jesus keine „höhere“ schriftgelehrte Ausbildung. Das Aufwachsen und die Verwurzelung in einem jüdischen Milieu Galiläas sicherten ihm ein großes Maß an biblischem Wissen sowie eine solide Exegese und Traditionstechnik. Die jüdische Bildung Jesu ist aber insgesamt nicht zu unterschätzen, konnte er sich doch mit kundigen Schriftgelehrten auf ihrem Gebiete messen lassen. Jesus hat in seiner Lehre sowohl frühjüdische sowie hellenistische Bezüge aufgenommen, aber die frühjüdischen und insbesondere die alttestamentlichen Traditionen bleiben prägend (:373).

3. Die Lehrautorität Jesu

Nach wie vor ist „die Frage nach dem Selbstanspruch Jesu“ in der neutestamentlichen Forschung umstritten. Riesner konzentriert sich auf den Autoritätsanspruch Jesu, der mit seinem Wirken als Lehrer verbunden ist (:375).

10. Der Lehrer

Die Anrede Jesu als „Lehrer“ hat wegen der Häufigkeit in den Evangelien einen historischen Wert. Alle vier Evangelisten verwenden Rabbi und didaskale. Dass Lukas gar nicht und Matthäus nur 2x die Anrede im Mund der Jünger führen, hat theologische Gründe bzw. ist bei Lukas mit einem anderen Begriff (epistates) zu erklären. Und gerade dass die Anrede als Lehrer „kein christologisches Würdeprädikat“ im frühesten Christentum war, begründet die Annahme, „dass Jesus während seiner irdischen Wirksamkeit als ‚Lehrer'“ wahrgenommen wurde (:377-83). Dass Jesus auch sich selbst als Lehrer bezeichnet, zeigt Riesner in der Interpretation von Mt 26,18/Mk 14,14/Lk 22,13, Mt 10,24-25/Lk 6,40 sowie Mt 23,8-10 (:383-91). Insgesamt hat die Anrede Jesu als „Lehrer“ einen historischen Wert. Für die frühesten Gemeinden war Jesus aber weit mehr als nur ein Lehrer (:392).

11. Der Prophet

Im Frühjudentum war es möglich, die Rollen des Propheten und des Lehrers zusammen in einer Person zu sehen. Wie Johannes der Täufer steht Jesus in der Tradition der alttestamentlichen Propheten. So „hat Jesus die Zentralgedanken seiner Verkündigung in kurze, poetisch geformte Worte gefasst, die leicht memoriert werden konnten“ (:419f).

12. Der „Messias“

Auf ca. 45 Seiten erörtert Riesner die frühjüdischen Messiaserwartungen. Dass Jesus als Messias angesehen worden ist, dafür spricht u. a. das Tradierungsmotiv der frühen Christen: Der Messias würde auch Weisheit lehren, so die Erwartung. Daher gab es Grund genug, „die Weisheitsworte [Jesu] sorgsam zu sammeln und als heilsame Botschaft weiterzugeben“ (Hengel bei :465). Dieses Motiv lässt sich auch schon in der Zeit vor Ostern nachweisen. Riesner fasst zusammen:

Jesus hat sich als den messianischen Weisheitslehrer gesehen und infolgedessen seinen Worten höchste Autorität zugeschrieben. Darin lag zumindest für die weitere Jüngergruppe und seit der ‚Galiläischen Krise‘ vor allem für den Zwölfer-Kreis, darüber hinaus aber auch für alle, die Jesu (wenn auch verhüllten) Hoheitsanspruch ernst nahmen, ein außerordentliches Überlieferungsmotiv (:466).

4. Die Öffentliche Lehre

13. Verkündigung vor den Volksmengen

In Bezug auf die Verkündigung Jesu vor den Volksmengen trägt Riesner die jüngsten Erkenntnisse der Forschung zu den Lernorten und Wanderpredigt, die Lehrweisen und die Aufmerksamkeitsaufforderungen zusammen (:468ff). Wesentliche Erträge sind:

  • Jesu Wanderpredigt war ein Unterscheidungsmerkmal gegenüber zeitgenössischen Protorabbinen (:469).
  • Jesus habe die heidnischen Gebiete von Tyros, Sidon und der Dekapolis eher als Fluchtorte und nicht als Missionsaktionen aufgesucht (:470).
  • Jesu Lehre in der Synagoge geschah im Kontext der Beteiligung von „Laien“ am Gottesdienst. Jesus war kein ausgebildeter und ordinierter Schriftgelehrte (gegen Bultmann; :471).
  • Jesus habe außerhalb des Synagogengottesdienst keine ausführliche Schriftauslegung praktiziert. Die Evangelien berichten hier verlässlich (:473f).
  • Jesus habe im Wesentlichen in einprägsamen, bildhaften und kurzen Lehrsummarien wiederholend gelehrt (in altägyptischen Schulen „Knoten“ genannt), wie es selbstverständliche Praxis von Schulen im Altertum üblich war (475f). Gleiches trifft auf die Gleichnisse zu (:482-485).
  • Jesus konzentrierte mindestens 75% seiner Lehre auf Anhänger, verhältnismäßig wenig Lehre richtete sich an die ablehnende Menge oder Gegner (:477f).

14. Die Sprache der Lehre

Bei der Diskussion um die verwendete Sprache Jesu nimmt Riesner die jüngste Diskussion der Forschung auf, in der stärker eine „trilinguale Situation zur Zeit Jesu“ aus Hebräisch, Aramäisch, Griechisch angenommen wird (:497f). Es wird eine Pluralität und Nebeneinander der drei Sprachen angenommen, wobei in Galiläa in städtischen Zentren und Untergaliläa mit stärkerem Einfluss des Griechischen und in Judäa mit der Lebendigkeit des Hebräischen zu rechnen ist (:504). In Bezug auf die Sprachen Jesu postuliert Riesner:

  • Wegen des frommen Elternhauses ist es gut möglich, dass Jesu Muttersprache ein hebräischer Dialekt war, wobei er das biblische Hebräisch schon früh in Nazareth in der Synagoge erlernt habe (:507). „Gegenwärtig rechnet eine nicht unerhebliche Zahl von Forschern mit Hebräischkenntnissen Jesu“ (:508).
  • Wegen einer ausgedehnten Wirkungszeit in Galiläa ist davon auszugehen, dass „Jesus auch die Mehrheit seiner ‚Lehrworte‘ dort auf aramäisch geprägt hat (:508).
  • Ein weitreichender Konsens rechnet heute damit, dass Jesus sich „auf auf Griechisch verständigen konnte“ (:512). Bei der Bewertung der Frage – „Griechisch habe als Lehrsprache Jesu eine sehr wesentliche Rolle gespielt“ – steht dagegen, dass Jesu Hauptwirkungszeit in Galiläa war (:513).

Fazit: Jesus hat in Galiläa Aramäisch verwendet, in Judäa und religiösen Kontexten wohl Hebräsich und wohl im Kreis griechisch sprechender Juden in Jerusalem auch Griechisch (:513).

15. Bewahrende Formung

Die Fülle und Weite mnemotechnischer Mittel, die Jesus verwendet (Riesner geht z. B. von „247 ursprünglich selbstständigen Wortüberlieferungen“ aus (:517)), lassen nur diesen einen Schluss zu, „dass es sich um bewusst zum Behalten geformte, didaktische Stoffe handelt“ (:529).

16. Die Gespräche

„Auffällig an den Gesprächen Jesu, die von den Synoptikern berichtet werden, ist u. a. ihre Kürze“ (:531). Diese Kürze weist nach Riesner auf einen konservativen Tradierungsprozess hin (:531).

5. Die Jüngerlehre

17. Der Jüngerkreis

Riesner sieht im vorösterlichen Jüngerkreis eine Lebensform, die wohl im Vergleich zu zeitgenössischen Beispielen und der nachösterlichen Gemeinde „in dieser Art unwiederholbare Gemeinschaft“ darstellt hat (:548). Auch die Nachfolgeforderung ist bei Jesus sehr spezifisch (im Vergleich zu Qumran oder den Rabbinen) ausgeprägt. Traditionsgeschichtlich ist hier an das Elia-Elisa-Verhältnis zu denken (1Kön 19,21; :546). Den Jüngerkreis Jesu sieht Riesner in der „gewerblichen Mittelschicht (Mk 1,20; Lk 5,7), die auf etwa 10% der Bevölkerung geschätzt wird“ (:540).

Die Traditionsbildung (zu den Traditionsmotiven siehe :540) sieht Riesner insbesondere in Worten an die Jünger und in der Lebensweise mit Jesus (:552-58), in ausführlichen Meister-Jünger-Gesprächen (:559-573) begründet. Jüngste Ergebnisse der Gedächtnisforschung zur Leistungsfähigkeit des menschlichen Gedächtnisses in oralen Kulturen problematisieren mindestens die alte These „freier Legendenbildung“ (David Friedrich Strauss; Rudolf Bultmann, :572f). Nimmt man auf die Frage „Ob man von einer Schule Jesu sprechen könne“ eine weite und funktionale Definition von Schule als „Lehren und Lernen“ an, so ist durchaus zu sagen: Der Jüngerkreis kann als „Schule Jesu“ bezeichnet werden (anders Th. Schmeller; Chr. Cebulj; :574).

18. Die Aussendung

Mit der Mehrheit der Exegeten hält Riesner an der Historizität der Aussendung der Jünger durch Jesus fest (:577). Gerade die Aussendung sei ein entscheidendes Datum der vorösterlichen Traditionsbildung gewesen (:578). Ziel der Aussendung sei es gewesen, das Bemühen um das Bewahren der Worte Jesu. Neben den inhaltlichen Aussendungsinstruktionen (Mt 5,19 u. a.) war der Grundsatz in antiken Lehrer-Schüler-Verhältnissen leitend, „dass der Schüler möglichst mit den Worten seines Lehrers antworten solle“ (:590). Man kann daher – vorsichtig gesprochen – in der Aussendung eine Art Katalysatorfunktion für „eine erste bewusstere Weitergaben von Erzählungen über Jesus“ ansehen (:593).

19. Esoterische Unterweisung

Die „Galiläische Krise“, also die Gefährdung des Lebens Jesu, bewirkte bei Jesus zunehmend den Rückzug und die Unterweisung der „Seinen“ im engsten Kreis (:595f; vgl. Hentschel, Die Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium). In diesem Zusammenhang klingen dann esoterische Themen bzw. apokalyptische Szenarien an (:597-605).

20. Die ortsfesten Anhänger Jesu

Eine nicht unerhebliche Rolle bei der Traditionsbildung spielten die ortsfesten Anhänger Jesu. „In den Kreisen der vorösterlichen ‚Sympathisanten‘ wurde ebenso wie durch die Aussendung der Jünger schon eine erste Weitergabe von Jesus-Erzählungen, vielleicht in Chrien-Form, angeregt“ (:635).

Zusammenfassung

Riesner sieht alle Merkmale antiker Schulbildung zwischen Jesus und seinen Anhängern, so dass eine „Schule Jesu“ postuliert werden kann. Mnemotechnische Mittel in der ‚Didaktik Jesu‘, die Existenz einer begrenzten und engagierten Gruppe von Überlieferungsträgern sowie eine aufs Memorieren angelegte antike Pädagogik haben die Verlässlichkeit der Überlieferung enorm begünstigt. Die „Personenkontinuität (Richard Bauckham), die Isolierung der Jesus Tradition (Franz Mußner) sowie das Miteinander von stabiler mündlicher Überlieferung und schriftlichen Gedächtnisstützen“ erweisen die dargestellte Geschichte der Jesus-Überlieferung als zutreffend (:635f). Riesner formuliert schließlich diplomatisch:

„Man darf deshalb der synoptischen Tradition mit ‚kritischer Sympathie‘ (Werner Georg Kümmel) und der berechtigten Erwartung begegnen, dass sie darüber Auskunft geben kann, welche Autorität Jesus für sich beansprucht hat und welche Inhalte er weitergeben wollte“ (Riesner 2023:636).

Würdigung

Was ist neu in der 4. Auflage?

Das opus magnum enthält in der 3. Auflage 520 Seiten Text und 79 Seiten Bibliographie. In der 4. Auflage verteilen sich 636 Seiten auf den Text und die Bibliographie wächst auf 176 Seiten an. Damit erweitert sich der Haupttext um ca. 18%. Die mehr als Verdoppelung der Bibliographie bestätigt den Eindruck, dass Riesner die Forschung seit der 3. Auflage gründlich durchgeforstet und viele weitere Quellen in seinem Werk verarbeitet hat.

Entgegen der 3. Auflage fällt die Zusammenfassung in der neuesten Aufgabe kurz aus (:633–636). Das ist aber kein Nachteil, weil die 3. Auflage aus einem „Nachwort“ von ca. 17 Seiten bestand, das nun sinnvollerweise in den Haupttext eingearbeitet worden ist.

Das Kapitel 1: Die Jesus-Überlieferung erhält an wichtigen Scharnierstellen eine überzeugende Weiterführung (3. Aufl.: 1–96 Seiten; 4. Aufl.: 1–184 Seiten). Hinzu kommen:

  • Synoptische Frage: Ein komplexes Entstehungsmodell
  • Formgeschichte: Verdienste, Verluste, offene Fragen; Die sogenannte Third Quest; Der ‚Erinnerte Jesus‘ im sozialen Gedächtnis
  • Weg der Überlieferung: Rabbinische Traditionsanalogien; Ein erweiterter Ansatz; Flexible und fixierte Mündlichkeit; Versuch einer Synthese; Ein unüberwindbarer Ostergraben?
  • Ursprung der Überlieferung: Neuere Veröffentlichungen (seit 1990), Christologie, Soziologie und Überlieferung
  • Analyse der Überlieferung: Beurteilung der Kriterien

Das Kapitel 2: Die frühjüdische Volksbildung würdigt nun im Besonderen die „anwachsende Literatur zur Art und Verbreitung einer frühjüdischen religiösen Bildung“ (:VII). Das Werk liefert daher auch einen Beitrag „zu einem Bereich der judaistischen Forschung“ (:VII; 3. Aufl.: 149 Seiten; 4. Aufl.: 190 Seiten). Neu ist:

  • Elternhaus, Frömmigkeit und Bildung
  • Exkurs: Literatur zur alttestamentlichen/frühjüdischen Bildung
  • Resümee: Von der königlichen Zeit bis zum Rabbinischen Judentum
  • Unterrichtsmethoden
  • Exkurs: Babylonischer Talmud, Baba Bathra 21a

Das Kapitel 3: Die Lehrautorität Jesu fällt in der neuesten Auflage kürzer aus. Riesner schafft es, seine bisherigen Ausführungen im Wesentlichen beizubehalten und zu straffen (z. B. Der Exkurs IV: Rabbi und Rabbuni beschränkt sich nun auf 5 Seiten, statt wie bisher 10 Seiten; 3. Aufl.: 107 Seiten; 4. Aufl.: 92 Seiten). Hinzu kommen die Unterkapitel:

  • Vielfältige frühjüdische Messiaserwartungen
  • Endzeitliche Lehrer im Alten Testament
  • Messianische Lehrer im Frühjudentum

Das Kapitel 4: Die öffentliche Lehre wird von 54 auf 67 Seiten erweitert (13 Seiten). Hinzu kommen die Unterkapitel:

  • Lehrsprachen und Übersetzung
  • Mnemotechnische Funktion von Formen
  • Streit- und Schulgespräche statt „Stilisierte Überlieferung“

Das Kapitel 5: Die Jüngerlehre umfasst 97 Seiten und ist damit im Vergleich zur 3. Aufl. nur unwesentlich erweitert worden (3. Aufl. 90 Seiten). Hinzu kommen die Unterkapitel:

  • Eine „Schule“ Jesu?
  • Erste Erzählungsüberlieferung? (statt „Erste Geschichtsüberlieferung“)
  • Informelle Mitschriften und veröffentlichte Evangelien

Welchen Gesamteindruck vermittelt die 4. Auflage?

Riesner trägt eine Fülle der deutschsprachigen, französischen und angelsächsischen Literatur zusammen. An entscheidenden Stellen werden gerade auch die jüngste Forschungsergebnisse referiert. In Bezug auf den Sachgegenstand der Evangelienüberlieferung bleibt der überdeutliche Eindruck:

Die Tradenten der „Worte und Taten des Herrn“ weisen durchweg ein besonderes konservierendes Interesse auf. Die Überlieferung ist insgesamt verlässlich (vgl. Lk 1,1-4). Viele der alten Thesen des 20. Jh. der Formgeschichte oder eines einseitigen kostruktivistischen social memory approaches werden mit ausgewogenen Argumenten und Urteilen zurückgewiesen.

Man staunt, was in der neutestamentlichen Forschung wieder alles möglich ist. Gelegentlich stellt sich beim Lesen der Monographie Riesners ein, dass das Pendel der Geschichte wieder zurückschlägt. Am Beispiel des Zwölferkreises lässt sich die Pendelbewegung veranschaulichen:

Julius Wellhausen hat 1911 die Hypothese eingeführt, dass der Zwölferkreis nicht existiert habe und eine Rückprojektion eines übergemeindlichen Gremiums aus nachösterlicher Zeit gewesen sei. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde den Verfechtern eines vorösterlichen Zwölferkreises eine „strereotype Argumentationsweise“ vorgeworfen. Nun mit Beginn des 21. Jahrhunderts kann Rieser eine Reihe von Forschern anführen, die eine vorösterliche Existenz des Zwölferkreises (wieder) annehmen. Die alte Hypothese Wellhausens gilt als überholt (:601).

Dies ist nur ein Beispiel und es gehört zum Verdienst dieser Monographie, dass sie diese forschungsgeschichtlichen Irrwege offen legt und grundsätzlich für ein Zutrauen in die synoptische Evangelienüberlieferung wirbt bzw. mindestens eine „kritische Sympathie“ (Werner Georg Kümmel) mit sachlichen und überzeugenden Argumenten begründet.


Endnoten

  1. Dazu gehören: 3.1 Datierung und Personenkontinuität; 3.2 Die Synoptiker als Geschichtsquellen; 3.3 Nichtpraktische Tradierungsmotive; 3.4 Rabbinische Traditionsanalogien; 3.5 Ein erweiterter Ansatz;
    3.6 Flexible und fixierte Mündlichkeit; 3.7 Tradierung und Anwendung; 3.8 „Gepflegte“ Überlieferung (:35–127). ↩︎
  2. Vgl. Wright & Bird 2020:40f; Schnelle 2015:115f. ↩︎

Bibliographie

Schnelle, Udo 2015. Das frühe Christentum und die Bildung. NTS 61(02), 113–143.

Wright, N. T. & Bird, Michael F. 2019. The New Testament in its World: An Introduction to the History, Literature, and Theology of the First Christians. Grand Rapids: Zondervan Academic.

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