Dass Kindesaussetzungen in der Antike vorkamen, ist in der historischen Forschung unbestritten. Es fehlte aber bis dato eine Untersuchung, die systematisch die antiken jüdischen und christlichen Quellen auswertet und eine moralische Reflektion dieser kulturellen Praxis darstellt. Christina Tuor-Kurth hat das Standardwerk zu diesem Thema veröffentlicht.

Kindesaussetzung und Moral in der Antike

In diesem Beitrag rezensiere ich ihre im Mai 2008 von der Theologischen Fakultät der Universität Basel angenommene Habilitationsschrift. Die Monographie gehört in die wissenschaftliche Disziplin der Historischen Familienforschung (:17). Indem neben dem biblischen Kanon antike Texte systematisch und methodisch ausgewertet werden, leistet solche Studien einen enormen Beitrag zur Sozialgeschichte des Christentums bei (vgl. jüngst Ehe, Familie und Agamie von Matthias Becker; Pauline Slave Welfare von W. H. Paul Thompson usw.).

Rezension

Tuor-Kurth, Christina 2011. Kindesaussetzung und Moral in der Antike: Jüdische und christliche Kritik am Nichtaufziehen und Töten neugeborener Kinder. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

406 Seiten. 130,– €
ISBN 978-3-525-56398-4

Rezension: Kindesaussetzung und Moral in der Antike

Tuor-Kurth konzentriert sich auf den geographischen Raum rund ums Mittelmeer und die dort ansässigen griechischen, römischen, jüdischen und christlichen Kulturen und Gesellschaften. Als Zeitraum werden Texte von ca. 500 v. Chr. bis ca. 400 n. Chr. ausgewertet.

Der spezifische Ansatz der Studie

Bisherige Beiträge zur Kindesaussetzung in der Antike beziehen sich vor allem auf das Phänomen an sich. Es interessiert das Vorkommen dieser kulturellen Praxis, ihre Verbreitung sowie Motive und Gründe für diese Art der ‚Familienplanung‘. Ebenfalls wird gefragt, welche Gesellschaften Kindesaussetzungen bevorzugt praktiziert haben.

Diese und ähnliche Fragen weist Tuor Kurth zurück. Für sie sind viele der bisherigen Forschungsbeiträge „kaum je frei von Ideologien und Vorurteilen“, die von einer „moralischen Beurteilung“ dominiert wurden (:15). Sie hinterfragt im selben Zuge evolutionistische Narrative, wonach die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern sich mit fortlaufender Geschichte verbessert (:15f), so z. B. die bekannte und viel zitierte Aussage von Lloyd de Mause:

„Die Geschichte der Kindheit ist ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen. Je weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unzureichender wird die Pflege der Kinder, die Fürsorge für sie, und desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell mißbraucht wurden.“

Lloyd de Mause bei Tuor-Kurth 2011:15

Durch die Wertschätzung der Attika in der Forschung des frühen 20. Jh. wurde sodann Kindesaussetzung in der klassischen Zeit geleugnet bzw. ausgeklammert (:16). Und bis in die moderne Zeit hatte sich die „Behauptung gehalten, wonach im Judentum biblischer Zeit Kinder anlässlich religiöser Rituale geopfert worden seien“ (:16). Im Christentum sei die Aussetzung von Kindern nicht vorgekommen (:16).

Kurzum: Für Tuor-Kurth sind solche Urteile zu pauschal und suggerieren, dass Kritik an der Kindesaussetzung ein modernes Phänomen sein.

„Doch gab es in der Antike bereits eine namhafte Kritik an derselben.“

Tuor-Kurth 2011:16

Auch die Rolle des Judentums auf die ethisch-christliche Reflektion wurde bisher zu wenig bedacht. Diese und ähnliche Fehlschlüsse möchte die Verfasserin konsequent vermeiden. Ein Ziel der Arbeit sei es zu zeigen, dass die Genese christlicher Ethik bei christlichen Schriftstellern zentral aus dem antiken Judentum erwächst (:17).

Methodisch orientiert sich die Verfasserin an Umberto Eco (Lector in fabula), das sie als „synchron-rezeptionsorientierten Zugang“ (:21) bezeichnet.

„Damit versuche ich, von dem im Text angelegten Modell-Leser zu einem möglichen konkreten Leser vorzudringen, einem Leser, der aufgrund seines kulturellen wie sprachlichen Wissens in der Lage ist, die Lücken und Leerstellen im Sinne des Textes zu füllen.“

Tuor-Kurth 2011:22

Dabei möchte sie die Gefahr eines Anachronismus unbedingt vermeiden, indem z. B. zwischen literarisch-fiktionalen und nicht fiktionalen Texten unterschieden wird (:30), die Datierung der Texte sachgemäß behandelt wird (:31) und quantitative Erwägungen zur Kindesaussetzung zurückgewiesen werden (:31).

Zum Aufbau und Inhalt der Studie

Auf knapp 50 Seiten wird die „Pagane moralische Wahrnehmung von Kindesaussetzung“ dargestellt und gewürdigt (:29-79; Teil II der Arbeit). Dabei werden Gesetzestexte aus Gortyn (datiert ins 5. Jahrhundert v.Chr.) und dem spätantiken Römischen Reich sowie die Bezüge auf rechtliche Regelungen aus Theben, Sparta und Ephesos untersucht. Es wird der Versuch unternommen, die öffentliche Meinung zur Kindesaussetzung einzufangen und auch kultische Regeln einbezogen. Lesenswert sind in diesem Zusammenhang die antiken Bezüge zwischen dem Aussetzung von Kindern und dem Rückgang der Bevölkerung bzw. dem gesellschaftlichen ’sozialen Niedergang‘ beim Historiker Polybios (:66-70).

Der III. Teil der Arbeit widmet sich den jüdischen Quellen (:80-192; ca. 110 Seiten). Es werden zentrale Stellen aus der hebräischen Bibel (Genesis 21,8–21; Exodus 2,1–10 (mit antiker jüdischer Rezeption der Aussetzung Moses, :119–149); Ezechiel 16,1–7a) interpretiert. Tuor-Kurth stellt fest, dass trotz eines fehlenden expliziten Verbots alle drei Erzähltexte die Kindesaussetzung negativ bewerten. Zeitgleich wird ein theologischer Begründungszusammenhang eingeführt. Sie schreibt:

„Gott tritt als Schöpfer hervor, der das Leben will, weil es heilig ist. Auf die Kindesaussetzung übertragen bedeutet dies, dass ein solches Tun sich gegen den Schöpfer und gegen die Gemeinschaft richtet, weil es die Heiligkeit des Lebens verletzt.“

Tuor-Kurth 2011:118

Danach werden Quellen aus dem Frühjudentum wie die Oracula Sibyllina, Philo von Alexandrien und Flavius Josephus analysiert.

Teil IV (S. 193–314) umfasst auf ca. 120 Seiten die christlichen Texte:. Im NT wird das Kinderaufziehen vorausgesetzt (:200). Sodann wird die christliche Rezeption von Ex 2, 1–10 durch das NT und die Kirchenväter vorgestellt. Abschließend untersucht Tuor-Kurth Texte aus der christlichen Apologetik und anderen christlichen Zeugnissen, etwa Clemens von Alexandrien, Basilius und Ambrosius.

Im letzten Teil (V. Teil, :315–352) untersucht die Verfasserin die „historischen Realitäten“ und fragt explizit: „Sind die letzten beiden so auswertbar, dass die Kindesaussetzung in den jüdischen Gemeinschaften römischer Zeit zum möglichen Schicksal eines neugeborenen Kindes dazugehört hatte?“ (:318). Nach Auswertung von Fremdaussagen nichtjüdischer Autoren der Antike kommt Tuor-Kurth zu dem Schluss, dass „das Vorkommen von Kindesaussetzung [innerhalb der jüdischen Gemeinschaften] zwar nicht ausschließt, aber als eine eher marginale Realität erscheinen lässt“ (:341). Bedeutend aus ethischer Perspektive ist ihr Gesamturteil:

„Der entscheidende Punkt bei den hier und in Kap. III. behandelten jüdischen Quellen ist das Existieren jener religiös-ethischen Norm, die gegen das Aussetzen von Kindern sprach. Gerade dass es ethische Richtlinien das neugeborene Kind betreffend gab, unterscheidet die jüdischen von den paganen griechisch-römischen Gesellschaften. Das hat jedoch, wie ich meine, nicht mit einer höheren Zivilisiertheit zu tun. (…) Die Bedeutung religiöser Begründungen für die Heranbildung eines Bewusstseins von Kindesaussetzung als ethisch verwerflich ist hingegen in der Tat nicht zu unterschätzen, wie u. a. die hier untersuchten jüdischen Textzeugnisse beweisen.“

Tour-Kurth 2011:341

zu sprechen; dazu gehören auch Fremdwahrnehmungen und kirchenrechtliche Maßnahmen und Regelungen. Abschließend folgen die kurz gefassten Schlussbemerkungen, das recht umfangreiche Literaturverzeichnis und das Stellenregister.

In Bezug auf die Kindesaussetzung in jüdischen Gemeinschaften wird dann abschließend folgende These formuliert:

„Hinsichtlich der Aussetzung von Kindern in den jüdischen Gemeinschaften biblischer Zeit vertrete ich daher die These, dass diese Praxis, da sie dem göttlichen Gebot und der Schöpfung entgegenstand, grundsätzlich höchstens in Notsituationen wie Armut oder Illegitimität vorkommen mochte, bei welchen denn die Texte eine gewisse Öffnung der religiösen Norm signalisieren. Die zunehmende Akkulturation in die jeweiligen Mehrheitsgesellschaften des Hellenismus und dann der römischen Gesellschaften konfrontierte die Juden mit anderen gesellschaftlichen Konventionen. Jüdische Schriftsteller empfanden die Notwendigkeit einer eingehenden Auseinandersetzung mit dieser Praxis. Freilich geht es bei den entsprechenden Textzeugnissen stets um eine normative Beurteilung der Kindesaussetzung vor dem Hintergrund der Torah. Ob gleichzeitig von einer Zunahme der Kindesaussetzung in Kreisen der jüdischen Gesellschaft jener Zeit auszugehen ist, dafür fehlen bis heute eindeutige Indizien. Doch weisen die Erwähnungen von ausgesetzten Kindern und Findelkindern im rabbinischen Schrifttum darauf hin, dass die soziale Realität von Hunger oder unehelicher Geburt auch weiterhin jüdische Eltern dazu führen konnte, ein Kind auszusetzen.“

Tuor-Kurth 2011:342

Damit wird in Bezug auf die Frage nach Moral und Ethik eine bedeutende Einsicht deutlich: Die ethische Bewertung der Kindesaussetzung zwischen griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Quellen wird jeweils von einem anderen Begründungszusammenhang geführt. Während pagane Quellen auf der Ebene des sozialen Zusammenlebens und der zivilen Moral (z. B. vom Staat denkend, Bevölkerungsgröße) argumentieren (horizontale Ebene), führen jüdisch-christliche Quellen konsequent einen vertikalen Begründungszusammenhang ein: Die Ablehnung der Kindesaussetzung wird theologisch, mit Gott selbst und seiner Gabe des Lebens begründet. Auch die christlichen Autoren orientieren sich konsequent am göttlichen Gebot. Sie kommen zu ihrem Urteil nicht etwa durch die pagane philosophische Kritik als solches.

Anfrage an den Forschungskonsens

Tour-Kurth kritisiert die Voreingenommenheit ihrer Vorgänger und Forschungskollegen, deren moralische Verurteilung der Kindesaussetzung und teilweise Pauschalisierung die historische Realität verzerre. Sie kritisiert die bisherige Einseitigkeit der Forschung:

„Es wird entweder angenommen, dass die Kindesaussetzung ohne Kritik praktiziert wurde, oder dass sie, da kritisiert, nicht vorkam.“

Tuor-Kurth 2011:353

Folglich ist sie stets um Neutralität bemüht. Die Verfasserin kommt zu drei Teil-Ergebnisse in der Studie:

Die moralische Bewertung und das Vorkommen der Kindesaussetzungen

Demnach waren auch pagane Quellen nicht frei von Kritik an der Praxis. Vielmehr gab es Anzeichen einer öffentlichen Ablehnung. Und andererseits ist damit zu rechnen, dass auch in jüdischen und christlichen Kontexten eine Kindeaussetzung vorkam.

Der ethische Begründungszusammenhang

Bedeutung bleibt der ethische Begründungszusammenhang, wenn man den Prozess der Akkulturation und Enkulturation zwischen paganen und jüdischen sowie christlichen Gemeinschaften betrachtet: Tuor-Kurth stellt z. B. fest, dass jüdische und christliche Quellen an keiner stelle ökonomische Motive als mögliche Begründung heranführen. Diesem in der Antike bekannten Begründungszusammenhang wird „die richtige Praxis der (religiösen) Lebensführung“ (:334) entgegengestellt.

Der Einfluss des Judentums auf das Christentum

Die Studie hat gezeigt, dass christliche Autoren ähnlichen oder denselben Begründungsmustern folgen wie ihre jüdisch-hellenistische Kollegen.

„Sie übernehmen deren Ableitung des Verbots, ein Neugeborenes zu töten oder anderswie zu beseitigen, aus dem Torahverbot des Mordens. Und ihr Eintreten für den Schutz des menschlichen Lebens gründet wie bei jenen auf dem Schöpferwillen sowie der daraus sich ergebenden Wahrnehmung des Lebens als heilig.“

Tuor-Kurth 2011:355

Würdigung

Tuor-Kurth hat eine ausgewogene Monographie zum Phänomen der Kindesaussetzung in der Antike vorgelegt. Überzeugend ist ihr methodischer Ansatz, der mit dem Vorhandensein kultureller Codes (Eco) in antiken Texten rechnet. Mit dieser Studie hat sie eine Lücke in der Historischen Familienforschung geschlossen.

Vom grundsätzlichen Forschungskonsens abweichend ist ihre umsichtige und fast schon zu vorsichtige Beurteilung paganer Quellen. Dabei gehe es ihr konsequent darum, auch die pagane Kritik an der Kindesaussetzung wahrzunehmen und auch zu würdigen. Im selben Zuge hat sie mehrfach herausgestellt, dass keine quantitativen Aussagen möglich sind.

Während Letzteres einerseits verständlich ist, bleibt trotzdem die Frage offen, ob für eine ethische Reflektion die zahlenmäßige Größe von Kindesaussetzung ausgeklammert werden kann. Es macht doch einen bedeutenden Unterschied, wie gravierend sich griechisch-römische Gemeinschaften und jüdische bzw. christliche Gemeinschaften zahlenmäßig bei der Kindesaussetzung unterschieden. Indem Tuor-Kurth sich auf dieses Glatteis nicht begibt, entsteht gelegentlich der Eindruck einer Nivellierung zwischen der paganen und jüdisch-christlichen Praxis. Mit etwas deutlicheren Konturen hat Larry Hurtado die pagane Praxis der Kindesaussetzung jüngst skizziert.1

Neben dieser Anfrage kann die Monographie viele Vorzüge vorweisen: Der Vergleich paganer und jüdischer Praxis mit ihren jeweiligen Begründungszusammenhängen, der Einfluss des Judentums auf das Christentum sowie die Infragestellung evolutionistischer Forschungsnarrative sind bedeutende Ergebnisse, die den Diskurs in der Forschung in jedem Fall befruchten können (z. B. Mainzer Forschungsbereichs „Ethik in Antike und Christentum“ (e/αc)). Weitere Forschung an den paganen Quellen ist zu begrüßen, da in dieser Arbeit nur eine Auswahl (auf ca. 50-60 Seiten) bearbeitet werden konnte.


Quellen

1 Vgl. Hurtado, Larry W. 2016. Destroyer of the gods: Early Christian distinctiveness in the Roman world. Waco: Baylor University Press. S. 144-148.

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