Es ist erfreulich, dass in der neutestamentlichen Wissenschaft Untersuchungen über Paulus und seine Mitarbeiter weiterhin ein Thema bleiben. In Paulus als Teamleiter legt der Autor Philipp Heinrich eine weitere umfangreiche Studie vor, die alle 13 Briefe des Corpus Paulinum und die Apostelgeschichte auf diese Fragestellung hin analysiert.
Paulus als Teamleiter: Paulinische Mitarbeiterführung
Philipp Heinrich hat an der Theologischen Hochschule Reutlingen studiert und wurde im Juni 2022 an der New Covenant International University1 (Loxahatchee, Florida) im Fachbereich Theologie promoviert.
In diesem Beitrag rezensiere ich seine Dissertation, die nun seit 2024 als Monographie vorliegt.
Paulus als Teamleiter – Rezension 2024
Heinrich untersucht die Frage: „Wie hat Paulus seine Rolle als Teamleiter verstanden und wie hat es sie ausgefüllt?“ (3). Dabei begrenzt der Verfasser den Forschungsgegenstand auf die Mitarbeiter rund um Paulus und seinen Umgang mit den Gemeinden, also die „paulinische Gemeindeleitung“. Heinrich stellt klar: Ihm gehe es, „Wie Paulus sein Mitarbeiterteam geleitet habe“, nicht um sein Leitungshandeln gegenüber „normalen“ Gemeindegliedern (43).
Methodische Umsetzung
Methodisch entscheidet sich Heinrich folgenden Weg zu gehen:
(a) Zunächst stellt er einen Überblick über die sozialgeschichtliche Landkarte der Führung dar. (b) Anschließend skizziert er die Rolle des Paulus als Gemeindeleiter gegenüber seinen Gemeinden. Dies stelle für ihn eine wichtige „Vorarbeit“ dar und „ermöglicht einen Vergleich des Leitungsverhaltens des Paulus gegenüber seinen Mitarbeitern und gegenüber seinen Gemeinden“ (119). Hierbei fokussiert er sich auf die Autorität, Führungsstrukturen, Ziele und Methoden der Führung. Paulinische Gemeinden sind für Heinrich „alle Gemeinden, mit denen Paulus im brieflichem Kontakt stand“ (119). (c) Nun wird das Phänomen der „Mitarbeitermission“ identifiziert, kategorisiert und die Aufgaben und Funktionen der Mitarbeiter skizziert. (d) Schließlich wird anhand der Briefe und der Apostelgeschichte die Mitarbeiterführung untersucht. Dies ist der Schwerpunkt der Studie.
(e) Letztlich wird der lange Anlauf der Schritte (a) bis (c) klar: Heinrich stellt die erarbeitete Mitarbeiterführung des Paulus (d) gegenüber dem Ethos der Führung in außerchristlichen (a) und christlichen (b) Kontexten. Es ist also eine an literarischen Quellen orientierte historisch-vergleichende Methode des Phänomens der Führung von Mitarbeitern bzw. Untergebenen.
Aufbau und Struktur
Die Monografie folgt einem stringenten und transparentem Aufbau. In einer umfassenden Einleitung (58 Seiten) werden die Forschungsfrage eingeführt, einzelne Begriffsdefinitionen erarbeitet, ein ausführlicher Forschungsüberblick angeboten sowie das methodische Vorgehen vorgestellt (1–58). Wer ein Mitarbeiter von Paulus ist, wird aufgrund zuschreibender Titel und der jeweiligen Funktionsbeschreibungen („missionarisch oder gemeindeleitend aktiv“) definiert (5f). Weiterhin wird ‚Führung‘ als Gruppenphänomen betrachtet, um Beziehungen zu gestalten mit einer bewussten Einflussnahme und zum Erreichen von Zielen verstanden (7).
In Kap. 2 („Führung im Umfeld des Paulus“) wird der sozialgeschichtliche Hintergrund mit einem Fazit zu den „Führungsstrukturen“ und „Führungsmethoden“ erarbeitet (59–118). Heinrich durchforstet hier ein weites Feld über die Führung in der griechisch-römischen und jüdischen Umwelt, Führung bei Jesus und in der Urchristenheit.
Sein Zwischenfazit fällt kurz aus: In Bezug auf die Führungsstrukturen beobachtet er im Wesentlich hierarchische Verhältnisse, die sich im Staat, im Vereinswesen, in den Philosophenschulen usw. (113–15). Im Blick auf Jesus erkennt er eine Fokussierung auf wenige, ausgewählte Personen und den Stellenwert des Vorbilds. Im Urchristentum sind Leitungsfiguren tendenziell zurückhaltender gegenüber einem „auf die eigene Ehre fokussierten Führungsstils“ (117).
Den Schwerpunkt zur Fragestellung der Studie bilden das Kap. 3 („Paulus als Gemeindeleiter“), Kap. 4 („Die paulinische Mitarbeitermission“) und schließlich am Corpus Paulinum und der Apostelgeschichte orientiertes Kap. 5 über „Die paulinische Mitarbeiterführung“ (265–438; 173 Seiten!). In Kap. 6 werden auf knapp 35 Seiten die „Ergebnisse“ und in Kap. 7 („Schluss“) eine Aktualisierung dargestellt. Zwei Anhänge über die „Paulus-Chronologie“ sowie eine „Mitarbeiterübersicht“ und ein Literaturverzeichnis schließen sich an. Ein Sachindex wird nicht angeboten.
Bei der paulinischen Gemeindeleitung konzentriert sich Heinrich auf (1) die Autorität des Paulus, auf (2) die von Paulus befürworteten Führungsstrukturen, (3) die Ziele und (4) die Methoden paulinischer Gemeindeleitung (119). Die Frage nach der Autorität wird primär an ausgewählten Selbstbezeichnungen (Apostel, Vater, Bruder usw.) analysiert (136). In einem Zwischenfazit fasst Heinrich den wesentlichen Ertrag zu diesem Kapitel zusammen (163–68).
Die Untersuchung der Forschungsfrage wird in Kap. 4 („Die paulinische Mitarbeitermission“) vorbereitet. Hier geht er alle relevanten Einzelpersonen im NT durch und stellt eine „Liste möglicher und tatsächlicher Paulusmitarbeiter“ dar (170–94). Demnach eruiert der Verfasser 44 paulinische Mitarbeiter und sechs Personen, die recht wahrscheinlich als Paulusmitarbeiter eingestuft werden können. 25 Personen bleiben außen vor, da ihre Zuordnung als Mitarbeiter des Paulus nicht nachgewiesen werden kann. Nicht namentlich genannte Personen im NT sind nicht berücksichtigt worden (z. B. 2Kor 8,18–23; 194).
Instruktiv ist sodann die Diskussion um eine mögliche Kategorisierung paulinischer Mitarbeiter. Heinrich erarbeitet aus den bisherigen Forschungsergebnissen eine überzeugende und modifizierte Systematisierung (199). Schließlich werden die „Aufgaben und Funktionen der Mitarbeiter“ systematisiert dargestellt: Reisebegleitung, Verkündigung, Gemeindeleitung, Beteiligung an der Abfassung der Briefe, Sendung im Auftrag des Paulus, Sendung im Auftrag der Gemeinde, praktische Unterstützung (245–63).
Das Herzstück der Arbeit ist der an den Briefen und der Apostelgeschichte orientierte Untersuchungsgang (Kap. 5). Hierbei konzentriert sich Heinrich im Wesentlichen auf Erwähnungen der 50 Mitarbeiter „oder anderweitigen anonymen Mitarbeiter“ und Stellen, „die gleichzeitig auch Aufschluss über die paulinische Mitarbeiterführung geben“ (265). Bei jedem der 13 Paulusbriefe werden zunächst ausführlich die Abfassungssituation, teils die „Mitabsenderschaft und die Verwendung des Plurals“ (1Thess, 2Thess, 1Kor, 2Kor, Kol und Phlm) und die expliziten Stellen über die Paulusmitarbeiter untersucht. Ein meist kurzes Zwischenfazit referiert über den Ertrag des jeweiligen Briefes.
Die Darstellung in der Apostelgeschichte orientiert sich an Paulus und seinen Umgang mit Einzelpersonen (Johannes Markus, Barnabas, Silas, Timotheus, weitere Mitarbeiter und die Ältesten von Ephesus; 422–37).
Würdigung
Was ist nun das Ergebnis der Studie von Paulus als Teamleiter? Philipp Heinrichs Studie ist eine bedeutende Untersuchung zu der Frage, wie Paulus seine Mitarbeiter (an)geleitet hat. Heinrich gebührt das Verdienst, ca. 45 Jahre nach der bedeutenden Arbeit von Wolf-Henning Ollrog2 eine umfassende Studie zum Phänomen Paulus und seine Mitarbeiter veröffentlicht zu haben. Dabei sichtet eine Fülle der einschlägigen Forschungsbeiträge aus den letzten vier Jahrzehnten. Die Studie zeichnet sich durch eine Reihe von Vorzügen aus, lässt aber auch Raum für einige vorsichtige Anfragen.
Besonders hervorzuheben ist die detaillierte Untersuchung der einzelnen Mitarbeiter. Die Identifikation der paulinischen Mitarbeiter überzeugt durch eine methodische Klarheit.
Auch führt Heinrich die Forschung weiter, indem er alle bisherigen Kategorisierungsversuche der Mitarbeiter bei Paulus sichtet und eine eigene modifizierte Mitarbeiterstruktur vorschlägt.3
Eine Untersuchung des Phänomens kommt unter der Einbeziehung der Apostelgeschichte nicht aus. Hier würdigt Heinrich den historischen Wert der Apostelgeschichte4 und untersucht das Phänomen für sich.
Bisherige sozialgeschichtliche Studien zum Mitarbeiterphänomen bei Paulus sind rar. Heinrich ist einer der ersten Forscher, der in summarischer Weise mögliche Berührungspunkte und Felder skizziert hat. Ergänzend könnten man auch noch an (alttestamentliche) Propheten-Schülerkreise untersuchen.5
Vorsichtige Anfragen lassen sich gerade in methodischer Hinsicht und im Blick auf den Aufbau der Arbeit formulieren.
Zum einen wird der Mehrwert der Untersuchung „Zur Abfassungssituation“ aller Paulusbriefe für die Fragestellung nicht klar. So verwendet Heinrich einige Seiten, um die Echtheit des 2Thess nachzuweisen (283-86), um dann anschließend nur festzustellen, dass es sich um ein „kollektives Schreiben“ handelt (287) und dass die These von Ellis (der 2Thess sei an eine Mitarbeitergruppe adressiert) nicht überzeugend sei (287f). Es wird nicht gleich klar, warum aus methodischer Sicht der ‚große Aufwand‘ in Bezug auf die Einleitungsfragen nötig war.6
Es ist zu begrüßen, dass Heinrich immer wieder das Erste-Person-Plural-Phänomen der paulinischen Briefe ins Gespräch bringt. Aber wird auch hier der Mehrwert nicht so recht deutlich. Dieser ergibt sich m. E. erst dann, wenn man aus diesen Passagen auch Aussagen über die Mitarbeiterführung ableiten könnte.7 Der Plural bei Heinrich bleibt wesentlich nur ein Erweis für die kollektive Verfasserschaft.
Weiterhin wäre es wünschenswert, dass zum Teil moderne Konzepte wie Hierarchie (440f), Egalität (441f), „beziehungsorientierte Aspekte“ (454), Sachorientierung („sachorientierter Mitarbeiterführung“, 455) usw. mit etwas mehr Vorsicht werden. Sowieso ist es auffällig, dass die Frage nach der Autorität die Arbeit von Heinrich durchzieht. Er stellt zwar sachgemäß fest: „Zunächst ist dabei nun hervorzuheben, dass die starke Leitungsposition des Paulus den damaligen kulturellen Konventionen entspricht“ (447). Aber zu fragen wäre, ob die Frage nach der Autorität nicht ein ‚modernes Ärgernis‘ darstellt und das moderne Konzept der Egalität in Bezug auf die Texte anachronistisch wirkt. Weiterführend wäre es m. E. andere sozialgeschichtliche Fragestellungen stärker in den Blick zu nehmen: Gesellschaftlicher Stand und Herkunft der Mitarbeiter, Geschlechterverhältnisse, wirtschaftliche und ökonomische Ressourcen, Bildung, Lebensformen.
Diese vorsichtige Anfragen sollen aber den Wert dieser Monographie nicht mindern. Heinrichs Studie ist ein weiterer Meilenstein im Forschungsbereich Paulus und seine Mitarbeiter (bzw. Paulus als Teamleiter). Zukünftige Studien werden, wenn sie historisch-wissenschaftlich interessiert sind, an seinen Einsichten und Thesen nicht vorbei gehen können.
Endnoten
- Heinrich hat über die Theologisch-missionswissenschaftliche Akademie (Theologisch-Missionswissenschaftliche Akademie – Horizonte Weltweit e.V. (horizonte-weltweit.de)) in Kooperation mit der New Covenant International University hat. Betreuer der Arbeit war Michael Immendörfer. ↩︎
- Ollrog, Wolf-Henning 1979. Paulus und seine Mitarbeiter: Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verl. (WMANT, 50). ↩︎
- Siehe Anhang 2 (483f). ↩︎
- Die historische Wert der Apostelgeschichte wird in den letzten Jahrzehnten auch in der deutschen Forschung positiver bewertet. ↩︎
- Vgl. dazu Riesner 2023:403-19 (Riesner, Rainer 2023. Jesus als Lehrer: Frühjüdische Volksbildung und Evangelien-Überlieferung. 4., vollst. neubearb. Aufl. (WUNT, 504).). ↩︎
- Ich möchte hiermit nicht die Verfasserfrage des 2Thess in Frage stellen, als vielmehr anfragen, welchen Zweck die Erörterung für die Fragestellung der Arbeit hat. ↩︎
- Vgl. Drews, Alexander 2006. Paulus in Gemeinschaft seiner Mitarbeiter: Eine Untersuchung der Kollegialmission im Corpus Paulinum und in der Apostelgeschichte. MTh Dissertation. Pretoria: University of South Africa. ↩︎