Frederik Elwert widmet sich in seiner Dissertation über Integration einer häufig unbeachteten Gruppe: Die russlanddeutsche Aussiedler in freikirchlichen Gemeinden. Der Titel Religion als Ressource und Restriktion im Integrationsprozess deutet schon das Spannungsverhältnis an, indem viele Migranten grundsätzlich stehen.

Religion als Ressource und Restriktion

Auskunft über Integrationsmechanismen sind nur mittels einer empirischen Untersuchung möglich (295). Dabei sind in der Vergangenheit verschiedene Integrationstheorien diskutiert worden:

  • Klassisch ist die Annahme, eine Assimilation (Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft) sei notwendig für eine erfolgreiche Integration. Dabei ist Religion hier „nur ein kultureller Appendix“ und wird daher regelmäßig beim Assimilationsvorgang komplett ausgenommen (296).
  • Jüngere Ansätze heben die Bedeutung der Binnenintegration in ethnisch definierte Segmente hervor. Integration ist hier stärker an der psychologischen Akkulturationsforschung und damit am Maß der geistigen Gesundheit der Migranten interessiert (297).

Integration bei Elwert ist am capabilities (Fähigkeiten)-Ansatz (von Martha Nussbaum) orientiert und wird damit als „Verwirklichungschancen von Migranten“ verstanden (298). Eigentliche Fragestellung der Dissertation ist damit: „Welche Konsequenzen [hat] ‚Religion‘ für die Entwicklung von Verwirklichungschancen in den Lebensläufen von Migranten“ (299).

„Religion“ bei dieser Gruppe tritt auch immer als Institution in Form von „Gemeinde“ hervor. Zugleich hat sie die Funktion einer individuellen Weltdeutung und ist damit eine Art „individuelle Theologie“ (300).

Was sind nun die markanten Elemente in Bezug auf Religion und Integration bei Aussiedlern?

Theologien als biographische Eigentheorien

Diese Formen „einer Aneignung und Aktualisierung religiöser Wissensbestände erleichtern dabei die Entwicklung eigener Handlungsschemata“ (301).

a) Ein Motiv dabei ist das Motiv göttlicher Führung. Diese hat nicht direkte Auswirkung auf die Verwirklichungschancen, bietet jedoch eine Resilienz im Umgang mit scheiternden Handlungsschemata – Damit geht eine positive Deutung der eigenen Biographie einher (302).

b) Als weiteres Motiv erfolgt die Sakralisierung der religiösen Gemeinschaft (303).

Es findet sich darüber hinaus auch ein „Muster weitgehender Abwesenheit religiöser Deutungen“ (303). Nur vereinzelt zeigt sich eine Loslösungsbewegung von der religiösen Gemeinschaft (304).

Religiös institutionalisierte Ablaufmuster

Sie „sind ein zentrales Element, über das die religiöse Gemeinschaft Einfluss auf die Integration Jugendlicher“ nimmt (305). Einerseits werden dabei Handlungsschemata eingeschränkt, aber es werden auch Verwirklichungschancen vergrößert bzw. gegeben.

a) Zentral ist die Konversion, die Anknüpfungspunkte für „Wandlungsprozesse der Selbstidentität“ (Schütze) bietet und neue Verwiklichungschancen eröffnet (306).

b) Bei einer starken biographischen Wirksamkeit institutioneller Ablaufmuster ist die Optionalität individueller Entwicklung auch eingeschränkt (306f).

Parallelbiographien und geschlechtsspezifische Ablauferwartungen

Diese Gruppe bildet häufig Parallelbiographien ab – zum einen Leben in der Gemeinde und zum anderen die Bildungs-/Erwerbsbiographie. Dies führt manchmal zu Konflikten.

„Trotz der hohen biographischen Relevanz der religiösen Gemeinschaft sind die jungen Aussiedler alle auch in Institutionen der Gesamtgesellschaft eingebunden“ (308), was nach Esser einer strukturellen Assimilation gleich kommt.

Institution der Aufnahmegesellschaft und emanzipative Tendenzen

Bibelschulen/Akademien, wo eine andere Prägung als die Gemeinde erlebt wird, und Kontakte begünstigen die Entwicklung einer neuen Identität (311). „In diesem Sinn kann Religion hier als postethnischen Vergemeinschaftung von Migranten bezeichnet werden“ (311). Andere Kontexte wie z. B. Sportvereine werden als alternatives Bezugssystem gewertet (311).

Würdigung

Religion im Falle der freikirchlich orientierter Aussiedler ist kein Element, „das eine größere Nähe zur Aufnahmegesellschaft herstellt“. Es ist zum Teil das Gegenteil der Fall (312). Religion wird – in Ermangelung einer eigenen Identität als Deutscher – häufig als „kultureller Differenzmarker“ und zum Unterscheidungsmerkmal.

Zugleich hat die Betonung der Religion gegenüber der ethnischen Zugehörigkeit „eine Tendenz zur Universalisierung“ zur Folge: Eigene Werte und Kultur können damit infrage gestellt werden. Dies birgt z. B. für Jüngere das Potenzial einer zunehmenden Emanzipation von den Älteren, ohne dabei die eigene Gemeinschaft zu verlassen (312). „Diese Prozesse einer De-Ethnisierung und Universalisierung sind dabei nicht spezifisch für die russlanddeutschen Aussiedler in freikirchlichen Gemeinschaften“ (312).

Die Arbeit von Elwert zeigt, dass

  • Die Religion weit stärker als bisher in Integrationsprozesses zu bedenken und zu würdigen ist. Hier kann und darf die Aufnahmegesellschaft ihre Denke über Religion hinterfragen bzw. sollte die Religion von Migranten stärker berücksichtigen.
  • Die Universalisierungstendenz eröffnet Russlanddeutschen die Möglichkeit, sich für Verwirklichungschancen innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu öffnen und echte Teilhabe bzw. Mitgestaltung zu eröffnen.

Quelle

Elwert, F. 2015. Religion als Ressource und Restriktion im Integrationsprozess, Zugl.: Bochum, Univ., Diss., 2014, Vier Beiträge aus evangelikaler Sicht, Wiesbaden.

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