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1.Tugend im Trend

Seit der Antike bis in das späte Mittelalter beherrschte die Tugendbildung den abendländischen Moraldiskurs. Dies änderte sich spätestens mit der Reformation, die andere Begriffe wie Rechtfertigung, Naturrecht usw. einführte.1 „Die Aufklärung führte schließlich zu einer fast vollständigen Verdunklung der Tugendethik im 19. Jahrhundert“.2

Einen entscheidenden Anteil an der Wiederentdeckung der Tugendethik hatte dann die britische Philosophin Elisabeth Anscombe mit ihrem 1958 veröffentlichten Aufsatz Modern Moral Philosophy und der schottisch-amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre.3 Gerade das bahnbrechende Werk von MayIntyre (Erstveröffentlichung 1981) hatte der Tugendethik einen neuen Auftrieb verliehen.

Heute ist die Forderung nach Tugenden bzw. Werten in der Politik, Pädagogik und Populärpsychologie nicht zu überhören. Selbst die Tugendbildung ist gefragt. So formulierte eine Spiegel-Spezialausgabe (13.05.2002, Titel: „Pfusch am Kind“) nach dem Pisa-Schock sieben Maßnahmen zur Verbesserung des Schulsystems, „darunter auch die Aufwertung von ‚Disziplin‘ als ‚Schlüsselqualifikation'“4. Und es kommt einem Déjà-vu gleich, wenn in dem Sammelband mit dem verheißungsvollen Titel Bildung? Bildung! 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert der Autor Gert Merville („Bildung! – Welche Bildung?“) schreibt:

Nachdem man sich des Vorwurfs des Altmodischen nun schon einmal ausgesetzt hat, fällt es leichter, dem noch etwas draufzusetzen und zur Veranschaulichung der angesprochenen Divergenz nicht auf moderne, zum Beispiel Humboldt’sche Bildungsparadigmen zurückzugreifen, sondern sogar die Aufklärung hinter sich zu lassen und auf das Mittelalter zurückzugehen. Und dies nicht, weil das deutsche Wort ‚Bildung‘ in jener Zeit erstmals entstanden ist, es dabei vor allem die Bildung des inneren Menschen in seiner ganzen Subjektivität bezeichnete (Meister Eckart)…

Gert Merville5

2. Tugendethik – Was bedeutet das?

In der Ethik werden konkrete Handlungen (inkl. ihrer Handlungstypen, Folgen und ihrer Subjekte) bewertet. Im Allgemeinen werden drei Haupttypen der Ethik unterschieden. Am folgenden Beispiel soll dies erklärt werden: Ein Schüler geht im Foyer der Schule zum Unterrichtsraum. In diesem Foyer befinden sich in weiterer Entfernung auch andere Personen. Auf dem Weg zum Ziel liegt ein Papierknäuel auf dem Boden. Wie soll die Person A handeln?

Die deontologische Ethik (auch Pflichtethik)

  • Fragen: Welche Handlung fordert das Gesetz bzw. die Pflicht? Was ist in diesem Fall „das Gesollte im Sinne der ethisch richtigen Handlung“6?
  • Voraussetzungen: 1) Das ethisch Richtige ist der Person bekannt. 2) Das ethisch Gute hängt vom ethisch Richtigen ab. 3) Das ethisch Richtige ergibt sich unabhängig von den Folgen.7
  • Anwendung: Person A weiß um die Pflicht, die z.B. in der Schulordnung beschrieben ist, dass Müll auf dem Boden aufzuheben ist. Person A tut das ethisch Richtige und hebt den Papierknäuel auf. Es vollzieht die Handlung trotz eines möglichen Image-Verlustes der Mitschüler (Beteiligte Dritte könnten Person A als „Streber“ belächeln).

Die teleologische Ethik (auch Utilitarismus bzw. Nutzenethik)

  • Fragen: Was sind die Konsequenzen einer Handlung? Wie kann das betreffende Gute durch das Handeln maximiert werden?
  • Voraussetzungen: 1) Das ethisch Richtige hängt vom ethisch Guten ab. 2) Das ethisch Richtige ergibt sich durch die Maximierung der guten Folgen bzw. durch die Minimierung eines möglichen Schadens.8
  • Anwendung: Person A hebt den Papierknäuel nur auf, wenn das für sie Gute maximiert wird (z. B. Sie erwartet einen Applaus der Mitschüler. Auch ein ironischer Applaus kann eine positive Folge haben, wenn Person A damit in den Mittelpunkt gerät und zur Heiterkeit beiträgt). Droht ein Image-Verlust und wird das Ansehen als gewichtig angesehen, wird Person A den Papierknäuel nicht aufheben.

Die Tugendethik bzw. Charakterbildung

  • Fragen: Was würde ein Mensch mit einem guten bzw. erstrebenswerten Charakter tun? Welche Handlung bringt einen guten Charakter hervor? Welche Handlung zeichnet einen tugendhaften Charakter aus?
  • Voraussetzungen: 1) Die handelnde Person hat eine Vorstellung von dem guten Leben (das gute Leben ist mehr als nur das ethisch Richtige und mehr als nur das ethisch Gute). 2) Die Tugendethik bezieht sich auf die individuelle Lebensführung. 3) Handeln im Sinne der Tugendethik wird dort erleichtert, wo eine gemeinschaftliche Bewertungsgrundlage des guten Lebens vorliegt (z. B. bei Aristoteles: ein vorbildhafte Bürger der polis).9
  • Anwendung: Person A hebt den Papierknäuel auf und wird von zwei Aspekten motiviert: a) Das Aufheben des Papierknäuels wirkt sich positiv aus auf die Ausbildung eines guten Charakters. b) Das Aufheben entspricht den für die Person A wichtigen Werten bzw. Tugenden wie Sauberkeit, Zivilcourage bzw. Mut (trotz eines möglichen Image-Verlustes). Diese Tugenden werden nicht aus Pflicht, sondern aufgrund der Vorstellung eines guten Charakters gewählt.

Gründe für den Trend hin zur Tugendbildung

In der Literatur werden unterschiedliche Faktoren genannt, die die ’neue Liebe‘ zu den Tugenden bzw. zur Tugendbildung begünstigen:

  • Der Wunsch in der „neuen Unübersichtlichkeit“ (J. Habermas) einen Weg bzw. Bezugspunkt zur Tradition (des guten Bürgers) zu finden.10
  • Impulse aus der Philosophie und die Krise der Moderne (zwischen einer universal normierten Pflicht- und Güterethik einerseits und eines ethischen Relativismus andererseits) – Die Tugendbildung „schafft einen Zugang zu einer sinnhaften kommunitären Werttradition“.11
  • Die Tugendbildung ist persönlich und individuell, während die deontologische und teleologische Ethik einen unpersönlichen Standpunkt stark betont hat und damit zur Entfremdung unseres alltäglichen Selbstverständnisses und der ethischen Perspektive beigetragen hat.12
  • Religiöse und naturrechtlich begründete Pflichten (Deontologien) verlieren ihre metaphysische Basis und ihre Rechtfertigungsgrundlage bzw. Relevanz in der Breite der Gesellschaft.13
  • Die explodierende Zunahme des Wissens verlangt nicht in erster Linie das Abrufen purer Wissensbestände, sondern die Einordnung der Wissensbestände. Diese „Einordnung“ bedarf aber gewisser Ordnungsstrukturen (das gute Leben?) und tragfähiger persönlicher Charaktereigenschaften.14

Der Paradigmenwechsel hin zur Tugend lässt sich beschreiben als Übergang von der Frage ‚Was ist gut?‘ zur Frage ‚Wer ist gut?‘

Mayordomo 2018:216

Kritik an der Tugendethik

Trotz der großen Enthusiasmus an der Tugend gibt es auch kritische Anfragen an die Tugendethik als ethische Denkrichtung.

  • Die Vorstellung des guten Lebens lässt sich nicht verallgemeinern. Der zugrunde liegende Relativismus macht das Formulieren allgemeiner ethischer Begründungen unmöglich.15 Versuche in diese Richtung hat aber Martha C. Nussbaum formuliert.16
  • Die Vorstellung eines guten Lebens ist in sich zu komplex und ungeordnet. Es bedarf einer Systematik der Ethik.17
  • Moralische Eigenschaften einer Handlung sind weiterhin zu prüfen, denn „man kann sich nämlich tugendhaft für das Falsche einsetzen“18.
  • Die Tugendethik lässt sich in einer pluralistischen, flexiblen und komplexen Gesellschaft die der heutigen kaum in der Breite konkretisieren bzw. umsetzen.19
  • Fragekomplexe wie Abtreibung, Sterbehilfe usw. sind aufgrund der Komplexität und ihrer gesamtgesellschaftlichen Folgen nicht allein nur auf die Tugendhaftigkeit des Handlungsträgers zu beziehen.20

Die o.g. Anfragen stellen klar, dass die Tugendethik nicht das Allheilmittel der Ethik sein kann. Vielmehr wird man die Tugendbildung nicht anstatt, sondern als übergreifend zur deontologischen bzw. teleologischen Ethik berücksichtigen. Für eine tragfähige Pädagogik des 21. Jh. bleibt sie aber ein Konzept, an der die Kitas, die Schulen und Hochschulen nicht vorbei gehen können.21

Quellen

  1. Mayordomo, Moisés Marin (2008): Möglichkeiten und Grenzen einer neutestamentlich orientierten Tugendethik. In: ThZ 64 (3), S. 213. ↩︎
  2. Wikipedia „Tugendethik“. ↩︎
  3. MacIntyre, Alasdair (2007): After Virtue. A Study in Moral Theory. 3. Aufl. Notre Dame: Univ. of Notre Dame Press. Deutsch: Der Verlust der Tugend. Vgl. dazu Afflerbach, Horst; Kaemper, Ralf; Kessler, Volker (2014): Lust auf gutes Leben. 15 Tugenden neu entdeckt. Giessen, Basel: Brunnen-Verl. (FW, Forum Wiedenest), S. 131. ↩︎
  4. Mayordomo 2008:214. ↩︎
  5. Gert Merville in Schlüter, Andreas; Strohschneider, Peter; Schlüter-Strohschneider (Hg.) (2010): Bildung? Bildung! 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung, 790), S. 61. ↩︎
  6. Quante, Michael (2006): Einführung in die allgemeine Ethik. Michael Quante. 2. Aufl. Darmstadt: WBG (Einführungen Philosophie), S. 130. ↩︎
  7. Quante 2006:129. ↩︎
  8. Quante 2006:129. ↩︎
  9. Quante 2006:138-140. ↩︎
  10. Mayordomo 2008:214. ↩︎
  11. Nach MacIntyre; siehe Mayordomo 2018:214f. ↩︎
  12. Quante 2006:138. ↩︎
  13. Quante 2006:138. ↩︎
  14. Melville 2010:63f. ↩︎
  15. Quante 2006:140. ↩︎
  16. Vgl. z. B. Nussbaum, Martha Craven (2011): Creating capabilities. The Human Development Approach. Cambridge u. a.: The Belknap Press of Harvard Univ. Press. ↩︎
  17. Quante 2006:140. ↩︎
  18. Mayordomo 2008:217. ↩︎
  19. Quante 2006:140. ↩︎
  20. Mayordomo 2008:217. ↩︎
  21. Siehe z. B. das Bildungsprogramm zur Tugendbildung der St. Paul John II Catholic Schools. ↩︎

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